Tyrolia 2022.
32 S.

Heinz Janisch und Michael Roher: Schneelöwe

Ich bin ein weißer Schneelöwe.

In einer großen dunkelblauen Sprechblase steht dieser in weißer Handschrift geschriebene Satz auf der ersten Buchseite. Dem gegenüber erblicken wir auf der rechten Seite das Profil einer kindlichen, der Buchmitte zugewandten Figur. Haar, Gesicht und Kleidung sind flächig und in unterschiedlichen tiefblauen Farbtönen gestaltet, die Gesichtszüge konturlos, unergründlich, universell?

Wir blättern einmal um, zoomen etwas nach draußen, nehmen die Figur in der Totale in den Blick. (Meinen zu) erkennen, dass es sich wohl um einen Jungen handelt muss, einen (Schwarzen?) Jungen, der von rechts nach links durchs bzw. aus dem Bild spaziert.

„Ich sehe weit und breit keinen Schneelöwen“, werdet ihr jetzt wahrscheinlich sagen. „Ich sehe nur einen Jungen, der wie ein Angeber in der Luft herumsteht.“ – heißt es auf der gegenüberliegenden Seite auf dunkelblau gezeichnetem Hintergrund. Darunter, ungefähr in der Mitte der Buchseite, drei Köpfe drei verschiedener Figuren: Figuren unterschiedlicher Geschlechter, Hautfarben, Kulturen, Religionen, die – ihren Kopf schräg nach oben gerichtet – auf den durch die wolken-durchzogene Luft schreitenden Erzähler blicken.

Leute, ihr habt keine Ahnung. – fährt der Ich-Erzähler fort. Ein Schneelöwe ist man innen. Den zeigt man nicht einfach so her wie ein Taschenmesser oder wie eine Schneekugel vor Weihnachten.

Im Wechselspiel verschiedener Blicke erzählen Heinz Janisch und Michael Roher in ihrem neuen Bilderbuch, das den knappen Titel „Schneelöwe“ trägt, behutsam und poetisch von dem schwierigen Prozess, dem eigenen Selbst näher zu kommen, von dem Versuch, ihm einen Namen zu geben, und dem Ringen darum, das Gefühl des Ich-Seins (bild-)sprachlich zu fassen. Wer bin ich und wie kann ich mich (diskursiv) in der Welt verorten? Wie kann ich mich be-schreiben und somit er-sprechen?

In fein gezeichneten Illustrationen und sorgsam gewählten Worten erzählen die beiden österreichischen Künstler von jenen Tieren, die – als Kinder und Erwachsene verkleidet – in uns und in unserer Welt unterwegs sind. Sie spiegeln sich in den Schattenwürfen der menschlichen Figuren wider, schreiben sich in ihre Körper ein und prägen jene Spuren, die sie auf der Erde hinterlassen. Manche wollen nicht enttarnt werden. Andere wissen gar nicht, welches Tier sich in ihrem Inneren verbirgt.
Bild und Text verfahren verdichtet und gemeinsam, lassen vereindeutigende Fragen der Zuschreibung häufig offen oder zumindest ambivalent und verzahnen sich auf viel-geschichtete Weise, um das performative Potential, das dem Ich-Sagen als (selbstbestimmter) Äußerung innewohnt, auszuloten. Die Frage, was hinter der wahrgenommenen Oberfläche des Alltags stecken könnte, wird dabei nicht nur inhaltlich erkundet: Als Werkzeug wählte Michael Roher den Kugelschreiber – um zu erproben, was man aus einem so allgegenwärtigen Schreibwerkzeug […] alles herausholen kann. Auf der Erzählebene wiederum wird das jeweilige Tier – im Fall unseres Protagonisten der titelgebende Schneelöwe – zum Spiegelbild und zur Projektionsfläche des Selbst, durch deren Moment der Verfremdung dieses Eigene erst sicht- und fassbar gemacht werden kann:

Manchmal ist mein Gang geschmeidiger als sonst. Ich bewege mich lautlos. Du siehst mich erst, wenn ich neben dir stehe und mich bemerkbar mache. //
An manchen Tagen höre ich mehr als andere. Ich höre das Brechen eines Astes im Wald. Und das leise Seufzen der Kinder aus dem Nachbarhaus, wenn sie sich über ihre Hausaufgaben beugen. //
Ich kann auch gefährlich knurren wenn jemand glaubt, andere ärgern zu müssen. […]

Dabei bleibt die Erzählung vom Schneelöwen jedoch nicht bei dessen Funktion als Metapher für einen Charakter, der sich durch Bedachtsamkeit, Feinfühligkeit und Zivilcourage auszeichnet, stehen, sondern entwickelt weitere Bedeutungsebenen, die aus der besonderen Bild-Text-Gestaltung entstehen. So verhandelt sie beispielsweise auch das Verhältnis von Mensch und Tier/Natur, und die Frage, wie wir auf das Nicht- bzw. Mehr-als-Menschliche blicken.

Auf einer Doppelseite etwa, die auf Basis der Lektüre der Künstlerbiografien am Ende des Buches als Selbstzitat des Illustrators gedeutet werden könnte, werden Tier und Mensch als Spiegelung entlang des Buchfalzes in Szene gesetzt: In vorsichtiger Annäherung berühren einander Luchs und Kind mit der Pfote- respektive Handfläche, einander zugewandt begegnen sie sich mit Achtsamkeit und Zärtlichkeit. Im rechten oberen Eck wiederum ist eine Familie zu erkennen, die im Zoo einen Elefanten im Käfig beobachtet. „Dumbo“ steht auf dem Schild unter dessen Gitterstäben. Der Text ergänzt dazu: Ich merke schon – das kommt euch alles seltsam vor. Wer weiß welches Tier ihr seid? Habt ihr euch schon mal über etwas gewundert, das ihr euch nicht erklären konntet? Das wäre ein Anfang.

Poetisch-metaphorische, magisch-realistische und gesellschaftspolitische Lesart können dabei neben- und im Austausch miteinander bestehen. Anstatt zu konkurrieren, eröffnen sie – über die Grenzen unterschiedlicher Altersgruppen hinweg – einen vielschichtigen Deutungshorizont, der ein breites Identifikationspotential und facettenreiche Zugangsmöglichkeiten zu dem vorliegenden Bilderbuch bietet. Die darin dargelegte Welt(-sicht) vermag uns der kindliche Ich-Erzähler dank seiner besonderen Fähigkeit, die verschiedenen Tiere unter der maskierenden Menschenhaut zu erkennen, näherzubringen. Dies tut er nicht nur analytisch, indem er erklärt und erläutert, sondern führt uns sein Selbst- und Weltverständnis auch unmittelbar vor: Auf einer beidseitig ausklappbaren Doppelseite können wir einen Blick hinter die Oberfläche der Realität erhaschen und den weißen Schneelöwen in seiner vollen Pracht bewundern. Aber: Kein Wort darüber, versprochen?

Claudia Sackl