Religiöses Buch im Mai 2022
Aus. d. Engl. v. Gabriele Würdinger.
Insel 2022.
64 S.
Clive Gifford und Sam Kalda: Die großen Philosophinnen und Philosophen
Was man mir nicht antun soll, will ich auch nicht anderen zufügen. Hätten gewisse Politiker (sowohl heute als auch in der Vergangenheit) die Lehren des Konfuzius gelesen und befolgt, sähe die Welt wohl jetzt und heute nicht so aus, wie sie aussieht. Vielleicht liegt darin auch eine der wichtigsten Funktionen jener Wissenschaft, um die es in dem großformatigen Sachbilderbuch von Clive Gillford und Sam Kalda geht: Die Philosophie liefert – nach Immanuel Kant – nicht nur Antworten auf die Frage, was wir wissen können, was wir hoffen dürfen und was der Mensch ist, sondern sie widmet sich eben auch der Frage, was wir tun und wie wir uns ethisch korrekt verhalten sollen. All diese Fragen wurden und werden in den Schriften zahlreicher berühmter Denker*innen der Philosophiegeschichte behandelt und nicht weniger als 28 davon holen Clive Gillford und Sam Kalda in ihrem sachliterarischen Meisterwerk vor den Vorhang. Thematisierung finden dabei auch die wichtigsten Konzepte und Begriffe der Philosophie: Das Spektrum reicht von ihren Anfängen in der griechischen Antike über religionsphilosophische Begrifflichkeiten, wie beispielsweise jener der Erleuchtung oder der Tugend, bis hin zu gendertheoretischen und feministischen Denktraditionen der Gegenwart. Als Leser*in wird man eingeladen, an dieser bild-textlichen Reise von Epoche zu Epoche, von Idee zu Idee und – wie der Titel schon verdeutlicht – von Philosoph*in zu Philosoph*in teilzunehmen.
Es ist eine Reise, die chronologisch von der Antike bis zur Gegenwart führt und über ein Doppelseitenkonzept strukturiert ist: Eine Seite, ein Begriff, ein/e Denker*in. So findet man beispielsweise ganz zu Beginn einen (wortwörtlich!) alten Bekannten wieder – Sokrates mit seinem Begriff der Wahrheit. Neben einem Überblick über seine Lebensgeschichte (soweit bekannt) lernen die Lesenden dabei auch seine Methode und seine zentralen Denkkonzepte kennen und nähern sich dabei sowohl biografisch als auch methodisch dem Begriff der Wahrheit an – auch wenn das natürlich nicht so einfach ist, denn schließlich gilt hier das sokratische Credo Ich weiß, dass ich nicht weiß.
Angereichert mit berühmten Zitaten und historischen Daten ist dieses Sachbilderbuch dabei sowohl eine Quelle des Wissens als auch ein ästhetischer Genuss. Denn auch wenn viele Informationen vermittelt werden, besticht dieses Sachbilderbuch durch seine klare und kunstvolle Gestaltung, die nie überladen wirkt. Ganz besonders bemerkenswert erscheint dabei, dass nicht nur westliche Denker*innen Einzug finden, sondern dass auch asiatischen Philosophen wie Konfuzius, Buddha und Tsu ein Platz eingeräumt wird – wiewohl die westlichen Denker definitiv in der Überzahl bleiben. Dasselbe ließe sich wohl auch über das Geschlechterverhältnis konstatieren, denn die Tatsache, dass weibliche Denkerinnen und ihre Werke in der Philosophie weitaus weniger kanonisiert sind als ihre männlichen Kollegen, spiegelt sich auch in diesem Sachbilderbuch wider. Nichtsdestotrotz geben Clive Gillford und Sam Kalda auch Frauen eine Bühne, die – auch wenn sie wichtige theoretische Grundsteine legen konnten – weit weniger bekannt sind als ihre männlichen Zeitgenossen. So etwa Mary Wollstonecraft, die vielen nur ob ihrer berühmten Tochter Mary Shelley – der Autorin von „Frankenstein“ – ein Begriff ist. Als eine der ersten Feministinnen trat sie bereits im 18. Jahrhundert vehement für Frauenrechte und Gleichbehandlung, so etwa für das Recht auf Bildung, ein und legte damit den Grundstein des Feminismus. Aber die Reihe berühmter Denkerinnen, die in diesem Sachbilderbuch thematisiert werden, geht weit über Mary Wollstonecraft hinaus: Auch Hannah Arendt und der Frage nach dem Bösen, Simon de Beauvoir und der Gleichberechtigung und natürlich Judith Butler und dem Genderbegriff ist je eine Doppelseite gewidmet. Vielfach sind es dabei die illustratorischen Details, die – abseits von dem riesigen Wissensfundus – den Reiz dieses Sachbilderbuches ausmachen. So findet man beispielsweise auf Simone de Beauvoirs Doppelseite ein Portrait von Jean-Paul Sartre, der ja, wie allseits bekannt (und wie auch im Sachtext berichtet wird), Simone de Beauvoir zeitlebens sehr nahestand.
Am Ende dieses Sachbilderbuches über das Denken und die großen Fragen findet sich schließlich – wie könnte es anders sein? – eine Frage: Wie könnte die Zukunft der Philosophie wohl aussehen? Das Spektrum scheint riesig und vielfältig; es reicht von der Medizinethik über politische Philosophie bis hin zu ethischen Fragen im Kontext der Robotik und der künstlichen Intelligenz. Doch wer nach den Sternen greifen möchte, muss zuerst über die Grundsteine der Philosophie Bescheid wissen, die in diesem Sachbilderbuch verständlich und illustratorisch meisterhaft zu erfahren sind. So werden auch die komplexen Theoreme eines Kant oder eines Foucault plötzlich verständlich und die Gedankenknoten, die philosophische Texte oft auszulösen wissen, Seite für Seite entknotet.
Julia Lückl