Anke Kuhl: Lehmriese lebt! Berlin: Reprodukt 2015.

Freundchen, junger Mann, lehmiges Monster, Wüterich, Grobklotz. In kürzester Zeit steigern sich die Beschimpfungen der Stadtbewohner*innen in Anke Kuhls Kindercomic gegenüber dem Golem, den Ulla und Olli aus „richtig schöne[m], fettige[m] Lehm” geformt haben. Dass ihr Riese über Nacht zum Leben erwachen, durch das Stadttor spazieren und ein gehöriges Ausmaß an Unruhe stiften würde, können die beiden Kinder erst gar nicht glauben. Vorsichtig nehmen sie die Verfolgung auf und müssen mitansehen, dass der Riese eine Spur der Verwüstung in der Stadt hinterlässt. Sein Verhalten steht somit im Kontrast zu den vielen Legenden, die über den Lehmriesen erzählt werden: „Meist ist dieser Golem freundlich und gut.”, heißt es in einem kurzen Epilog, der über die Figur des Golems aufklärt. Davon wissen zu diesem Zeitpunkt die kindlichen Rezipient*innen wahrscheinlich ebenso wenig, wie die kindlichen Protagonist*innen. Im Vordergrund stehen die Wortlosigkeit des Golems und dessen delinquente Taten: Zuerst stiehlt er ein Eis, verschlammt die Frisur einer feinen Dame, demoliert das Innere eines Supermarktes und verübt weitere kleine vandalische Akte auf seinem Weg zum Rathausplatz.  

Was oberflächlich als tollpatschiges Verhalten ohne erkennbare Motivation gelesen werden kann, berichtet auf humorvolle Weise von einem nicht ganz so humorvollem Phänomen der Gegenwart: die soziale Isolation innerhalb der Gesellschaft. Wer nicht dazu gehört, wer die Regeln nicht kennt, wer nicht mitspielt und all die (teils konsumgesteuerten) Konventionen nicht deuten kann, wird sanktioniert, beschimpft und in die Enge getrieben.  
Nicht immer wird die Segregation von der Mehrheitsbevölkerung so imposant zu beobachten sein, wie im Falle von Anke Kuhls Lehmriesen-Illustrationen. Ihre Inszenierung kann als bildgewaltiger Hinweis auf einen Missstand verstanden werden, wenn der Golem ganzseitig auf dem Rathausdach platziert wird und mit demontierten Glocken in das Vollgeläute übergeht. Alle Blicke richten sich nach oben, es wird auf den Golem gezoomt, die Soundwords “DONG, DONG, DONG” zeugen vom Lärm und in den folgenden Panels versammeln sich die zuvor geschädigten Personen rund um das Rathaus.  

In kurzen direkten Reden und einer präzise getimten Panelabfolge führt Anke Kuhl zum Höhepunkt der Erzählung: der Golem soll von der Feuerwehr mit Wasser bespritzt und so der Lehm aufgelöst werden. Eine einfache wie drastische Lösung, die von der Bevölkerung gutgeheißen wird und in Kuhls grotesker Figurenzeichnung an Schärfe gewinnt, als die Stadtbewohner*innen bildlich zusammengeführt werden und ob der kindlich-naiven Intervention in Gelächter ausbrechen: „Wollt ihr mir erzählen, dass ihr einen echten Golem geschaffen habt?”, lautet die amüsierte Frage des Kommissars, der stellvertretend die ausführende Rolle in Sachen Problembekämpfung übernommen hat. Der Dialog mit dem Golem, also mit der isolierten Person wurde zu keinem Zeitpunkt gesucht und erst als der Frisör interveniert, erinnert man sich an die Golem-Sage und die besondere Beziehung zwischen Schöpfer und Lehmriese.

Anke Kuhl versinnbildlicht mithilfe der Golem-Legende die Brisanz unhinterfragter Ausschlussverfahren und zeigt dies in gewohnt leichtfüßigen Illustrationen, die sie diesmal in Comicform verpackt. Trotz der inhaltlichen Schwere, die diese zeitlose Erzählung in sich trägt, gelingt Kuhl eine warmherzige Adaption der Sage, die durch die kindliche Mitmenschlichkeit auf eine Gruppe von Menschen verweist, die es in jeder Gesellschaft braucht: Helferinnen und Helfer, die auch in einem Lehmriesen das Menschliche sehen.

Peter Rinnterthaler

>>> hier geht es zu den Religiösen Bücher 2016