Sarah N. Harvey: Drei kleine Wörter. Aus dem Englischen von Ulli und Herbert Günther. München: dtv/Reihe Hanser 2015.

Bin ich denn der Hüter meines Bruders – diese alttestamentarischen Zeilen gehen Sid, der sechzehnjährigen Hauptfigur dieses kanadischen Jugendromans, durch den Kopf, als ihn nach einer geborgenen Kindheit bei seinen Pflegeeltern plötzlich ein wildfremder Mann um Hilfe bittet: Nicht nur Sids psychisch labile leibliche Mutter, die er seit 14 Jahren nicht gesehen hat, auch sein jüngerer Halbbruder, von dessen Existenz er bis dahin gar nichts wusste, sind spurlos verschwunden. Seine Pflegeeltern, die gerade mit der kleinen Fariza beschäftigt sind, die erst seit kurzem bei ihnen ist und nicht spricht, überlassen ihm die Entscheidung, ob er sich an dieser Suche beteiligen will – schließlich reizt es ihn doch, etwas mehr über seine leibliche Familie zu erfahren und er begibt sich mit dem Mann, der ein Freund der Mutter ist, auf den Weg nach Victoria, wo auch seine Großmutter Elizabeth lebt. Eine detektivische Suche beginnt – und die nicht unkomplizierte Begegnung zweier Brüder, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Während Sid (der von seiner Mutter den klingenden Namen Siddharta bekommen hat…) drahtig, blass und rothaarig ist, ist der „kleine Bruder“ Gawain dunkelhäutig und stämmig. Parallel geführt zu Sids Auseinandersetzung mit seiner Herkunftsfamilie wird die Geschichte von Fariza: Im gemeinsamen Zeichnen mit dem stillen, aber doch tatkräftigen und souveränen Sid findet sie einen Weg, sich mitzuteilen – und er ist es schließlich auch, dem sie das schlimme Schicksal ihrer Familie erzählen kann. Unaufgeregt und pathosfrei wird hier von Menschen erzählt, die einander bislang gar nicht kannten und doch an einem wesentlichen Punkt im Leben für einander wichtig werden: Denn die besondere Atmosphäre in Sids Pflegefamilie, die die Auseinandersetzung mit schwierigen Kindern und Jugendlichen gewöhnt ist, bringt auch für den aufsässigen Bruder Wain ein Stück weit Beruhigung in seinem Leben, das bis dahin stark von den Aufs und Abs der psychischen Krankheit der Mutter geprägt war. Die titelgebenden drei kleinen Wörter, die bei der Begegnung mit Sids und Wains Mutter im Krankenhaus fallen, sind nicht jene, die man vermuten würde – und doch ist das Ende dieser ungewöhnlichen Coming-of-Age-Geschichte geprägt von einer großen Versöhntheit mit dem, wie es ist: „Du hast ein gutes Leben gehabt“, sagt sie. Es ist nicht als Frage gemeint. „Das beste“, sagt Sid.

Kathrin Wexberg

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