Antje Damm: Der Besuch. Frankfurt/M: Moritz 2015.

Fast wie ein Schwarzweißfilm mutet das Bild auf dem Vorsatzpapier an. Man wähnt sich zunächst in einem Vorzimmer, bestenfalls der Stube – Türe, Kommode, Bilder an den Wänden, ein Tisch mit zwei Sesseln, eine sehr steile Treppe. Versteckt unter dieser Treppe (so gut, dass man es nicht sofort bemerkt) steht ein Bett im ewigen Schatten. Was also befindet sich im ersten Stock? Trostloser als das Erdgeschoß kann es jedenfalls nicht sein. In dieser grauen Welt lebt Elise. Elise ist ängstlich. Sie hat „Angst vor Spinnen, Angst vor Menschen und sogar Angst vor Bäumen.“  Deshalb bleibt sie immer zuhause in ihrer kleinen grauen Welt, die auch vom hinter den Fenstern (durch Transparentpapier) sichtbaren Sonnenlicht nicht heller zu werden scheint. Sie selbst ist hell, aber ebenfalls farblos, so farblos, dass man nicht sagen könnte, wie alt sie ist.
Eines Tages flattert ein Papierflieger ins Haus, blau und frech zischt er die Treppe hinunter und vor Elise auf den Boden. Sie verbrennt ihn – und kann trotzdem die ganze Nacht nicht schlafen vor Angst. In bläuliches Licht getaucht, sitzt sie auf ihrem Bett.
Am nächsten Tag geschieht etwas noch Unglaublicheres: Jemand klopft. Rot und gelb leuchtet die Kleidung des Jungen, der seinen blauen Papierflieger sucht. Und ganz dringend mal muss. 
Von dem Moment an, als Elise ihre Angst überwindet und den Jungen – Emil – hereinbittet, ziehen Farben in das Haus. Unter den Füßen des Jungen färben sich die Dielen orange, die Wände werden gelb, als er an ihnen vorübergeht. Das graue Bild, das daran hängt, wird rosig frisch – und es ist gar keine altehrwürdige Vorfahrin, es ist Elise selbst. Am meisten fasziniert den Jungen das Bücherregal, er möchte vorgelesen bekommen. Jetzt ist es an Elise, Farbe zu bekennen: Rosafarben wie auf ihrem Porträt, aber schon deutlich älter, sitzt sie neben dem kleinen Jungen, nimmt ohne zu zögern die Rolle der klassischen Großmutter an. Beim anschließenden Versteckenspielen werden auch die letzten Ecken des Hauses bunt. Doch irgendwann muss der Kleine gehen. Elise bleibt zurück in ihrem nun warmen, einladenden
Haus. Sie holt sich blaues Papier und beginnt zu falten…
Die Besonderheit dieses Bilderbuches liegt in seiner unkonventionellen Gestaltung. Antje Damm stellt ihre Figuren in aufwändig gearbeitete dreidimensionale Kulissen aus Papier, die je nach Elises Gemütszustand mit verschiedenen Farbfiltern beleuchtet und aus verschiedenen Perspektiven fotografiert werden. Schatten und Licht spielen eine ebenso große Rolle wie die bunten Kleckse am Bühnenbild, die umso strahlender werden, je mehr Zeit Emil bei ihr verbringt.
Am Nachsatz sieht man erneut Elises Haus, lichtdurchflutet und bunt. Sie hat ihre Angst überwunden, sich auf das Fremde eingelassen und wird dafür mit einem Freund und neuer Lebensfreude belohnt –eine alte Moral, die aber kaum oft genug wiederholt werden kann. Und die selten so detailverliebt und farbenprächtig umgesetzt wurde wie bei Antje Damm. 

Simone Weiss

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