Religiöses Buch im Sommer 2014
Stian Hole: Annas Himmel. Aus dem Norw. v. Ina Kronenberger München: Hanser 2014.
Der Anblick einer blau linierten Schulheftseite samt rotem Korrekturrand am Schmutztitel unterstreicht das Gefühl jener Lebensphase, in der wir Sätze wie „Kajak schreibt sich vorwärts und rückwärts gleich [...] Rentner auch.” aussprechen. Jener Abschnitt in dem sich Anna gerade befindet, in dem sie kopfüber von der Schaukel hängt, in dem die Empfindung für das eigene Umfeld stärker ist als das Verständnis dafür: „Genau wie Anna, fügt Papa hinzu. Aber jetzt musst du dich beeilen, sonst kommen wir zu spät. Anna merkt, dass Papa unruhig ist, obwohl sie ihn nicht anschaut. Sie spürt es in der Luft, im Gras, in der Narbe am Knie, im Muttermal am Hals und in jedem einzelnen Haar auf ihrem Kopf.” Auf der nächsten Bilderbuchseite hat Anna die Augen geschlossen und die langen kastanienbraunen Haare stehen elektrisiert in die Luft. Über ihr schweben neben Schmetterlingen, Urzeittierchen und floralem Allerlei sieben Elefanten durch die Luft. Der größte von ihnen trägt eine Frau mit zarten Flügeln auf dem Rücken. Die
Traumsequenz wird abrupt unterbrochen als die „Kirchenglocken auf der anderen Fjordseite” zu läuten beginnen und Annas Vater wortlos am Bildrand zurückbleibt.
Unvermittelt beginnt sich Anna zu erinnern: „Mama hat Vögel fliegende Blumen genannt und die Sonnenblume die kleine Schwester der Sonne”. Im Text markiert die grammatikalische Vergangenheit die Abwesenheit und im Bild verweisen Gegenstände des Alltags symbolisch auf die Leerstelle, die die Mutter hinterlassen hat: ein angebissener Apfel, verwelkte Rosen, ungetragene Kleider, die leer an Haken hängen oder eine zerrissene Perlenkette. Das Unzusammenhängende der abgetrennten Perlen spiegelt sich in der Struktur der Erzählung wieder. Kursorisch werden Annas Momente aneinandergereiht. Nachdem ihr Blick still auf Mamas Sachen verharrte, taucht auf der nächsten Seite die Frage auf: „Wie kann Gott uns nur alle im Auge behalten?” Die dazu illustrierte Doppelseite mit unzähligen Pfauenfedern, die von Stian Hole mit collagierten Augäpfeln versehen wurden, scheint die Antwort parat zu haben.
Doch es tauchen immer mehr Fragen auf und nach dem Satz „Glaubst du, dass es hinter dem Spiegel eine andere Seite gibt?” durchdringt Anna samt Papa die Grenze der Rationalität und sie gelangen über den „Marianengraben” und den „Krebsnebel” zu „einer Stelle, wo der Himmel unter Wasser steht”. Was in Genisis 1 getrennt wurde, wird in „Annas Himmel” wieder ineinandergeführt. Raum und Zeit lösen sich auf, während der Zustand paradiesischer Einheit wiederhergestellt wird. Mensch und Mensch: Anna und ihr Vater sind sich nun ganz nah. Mensch und Natur: Annas Haaren entwachsen unterschiedliche Pflanzenformen, die wiederum von tierischen Lebewesen bevölkert werden. Und die „viele[n] Stimmen”, die aus der
Riesenmuschel kommen, „hören sich an wie ein himmlischer Chor.” Die grafisch überlagerten Bildebenen, die Stian Hole mit zahlreichen Fotografien kombiniert, werden in dieser Traumsequenz vom tiefen Blau der Ewigkeit dominiert. Meer und Himmel können sich voll entfalten, historische Figuren (Darwin, Elvis, Picasso und Co.) darin weiterleben und die Suche nach der Mutter wird auf eine höhere, metaphorische Ebene gehoben: „Ich kann Mama nirgendswo sehen. Vielleicht jätet sie Unkraut im Paradies, [...] Gott freut sich bestimmt über eine Gärtnerin.”
Annas farbenprächtige Gedankenreise ins Meer und in den paradiesischen Garten umfasst rückblickend eine Vielzahl an Fragen, die in den kurzen Textabsätzen gestellt werden. Im Motiv des Gartens im Sinne einer Idylle schwingt die Sehnsucht nach dem paradiesischen Urzustand des Menschen mit und aus der Gedankenreise ist eine Trostgeschichte geworden. Doch die letzte
Frage wird nicht im Text gestellt. Dort heißt es kurz „Endlich lächelt Papa.” Anna, die ihren Handrücken mitfühlend an Papas Wange gelegt hat, trägt einen traurigen Blick und die Frage könnte lauten: Wer tröstet die, die trösten?
Peter Rinnerthaler
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