Rainer Oberthür: Das Vaterunser. Ill. v. Barbara Nascimbeni Stuttgart: Gabriel 2013.

Das Vaterunser ist ein Gebet, das christlich-religiös sozialisierte Kinder wahrscheinlich schon recht früh kennenlernen: In vielen Fällen bleibt es eine oft gehörte, oft wiederholte Formel, deren Bedeutung sich Kindern (und Erwachsenen) nicht wirklich erschließt. Das vorliegende Bilderbuch von Rainer Oberthür setzt an, Kindern den Sinn dieser Gebetsverse nahezubringen. Der/die LeserIn, im Text mit Du direkt angesprochen, wird mit seinen/ihren Fragen nach der Welt und dem Leben abgeholt und langsam an das Vaterunser herangeführt. Dies passiert, indem der Erzähler assoziativ zu der Frage gelangt, wie man mit Gott sprechen kann, besonders dann, wenn man die richtigen Worte dafür nicht findet. Das Vaterunser wird so als Möglichkeit zu einem Gespräch mit Gott präsentiert:
„Es ist ein kleines Gebet, das die große Welt umspannt, ein Ruf in den Himmel, eine Brücke von der Erde zum Himmel. Darin sind all deine Gefühle und Gedanken enthalten. Gott hört sie, wenn du nur dieses Gebet sprichst. Denn er hat sein Ohr ganz nah an deinem Herzen!“ (16) Dieses Bild vom Gebet, das die Verbindung zwischen Gott und dem Menschen herstellen kann, wird auch auf dem Buchumschlag umgesetzt: Hier ist ein Baum zu sehen, der Himmel und Erde verbindet und an dessen Stamm sich ein Mädchen anlehnt. 
Der Text des Vaterunsers wird zunächst als Ganzes präsentiert. In der Folge werden die einzelnen Verse auf je einer Doppelseite textlich und bildlich interpretiert und verständlich gemacht. Das Buch ist von einer klaren Aufteilung zwischen Text und Bild charakterisiert: jeweils eine Doppelseite gliedert sich in Text – links, auf weißem Hintergrund – und Illustration – rechts, ganzseitig, ganzflächig färbig. Diese sehr klare Strukturierung wird nur auf zwei Doppelseiten aufgegeben: jene Seiten, auf denen das Vaterunser als vollständiger Text abgedruckt ist. Diese seitengestalterische Hervorhebung des Gebets ist ein erstes Beispiel für das schöne Zusammenwirken von Text und Illustration in diesem Bilderbuch. 
Jeder einzelnen Zeile wird nun eine Doppelseite gewidmet – in Wort und Bild erfolgt eine Ausdeutung der Worte des Vaterunsers. Die Illustrationen von Barbara Nascimbeni bleiben teilweise sehr nah am Text, teilweise ist der/die LeserIn auch gefordert, die Beziehung von Text und Bild selbst herzustellen. Die Illustratorin greift einzelne Aspekte heraus  - besonders schön ist die Illustration zur Verszeile Dein Wille geschehe: Ein Mädchen geht ihren eigenen Weg, bleibt aber im Umriss von Gottes Hand. Aus jedem möglichen Weg, beziehungsweise Finger, erwächst etwas Gutes. 
Der eingehenden Erläuterung der einzelnen Verse des Vaterunsers folgt eine Art kulturgeschichtliche Einordnung: Die beinahe zweitausendjährige Tradition dieses Gebets, sowie seine weltweite Verbreitung werden ebenso thematisiert wie die Tatsache, dass das Vaterunser Christentum und Judentum verbindet. Der Erzählbogen endet mit einer zweiten, lebensnäheren Formulierung des Vaterunsers. 
Ziel dieses Bilderbuches ist, Kindern das Vaterunser nahezubringen, und geht dabei von der
Situation aus, dass das Kind dieses noch nicht kennt - der Erzähler wendet sich mit den Worten: „Nun kennst du das [Vaterunser]“ (52) an den/die LeserIn. Es stellt sich die Frage, ob das Buch nicht vor allem Kinder erreicht, deren Umfeld christlich-religiös geprägt ist, und die daher dieses Gebet bereits gehört haben. Diese Überlegung schmälert jedoch nicht das Potential des Buches, das vielleicht schon oft gehörte Gebet (nicht ausschließlich!) Kindern verständlich und lebensnäher zu machen. „Das Vaterunser“ bietet Interpretationen, die Denkanstöße oder ein besseres Verständnis dieses Gebets geben können.

Katharina Kickinger

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