Religiöses Buch im Februar 2014
Anne-Laure Bondoux: Der Mörder weinte. Hamburg: Carlsen 2014.
Im Jahr 2011 hat die französische Autorin Anne-Laure Bondoux für ihren Roman „Zeit der Wunder“ den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis bekommen. Noch expliziter unterlegt sie das Erzählen in ihrem neuen Buch mit biblischen Motiven, Anleihen und Metaphern – und führt dabei vom Ende der Welt zurück an den Anfang (allen Seins). Seinen
Ausgang nimmt der erzählte Exodus im äußersten Süden Chiles; an einem wildumtosten
Fleck Küste im Nirgendwo, an dem der kleine Paolo Poloverdo in die Gefangenschaft von Angel Allegría gerät. Der von der Polizei in Talcahuano, Temuco und Puerto Natales gesuchte und aus diesem Grund an das Ende der Welt geflüchtete Angel ist ein gefallener, verstoßener Engel, dem jede Lebensfreude (Allegría) fehlt; doch das Kind, auf das er hier, am
Ende der Welt, trifft, vermag ihn letztlich zu läutern und zu erlösen. Vorerst jedoch verläuft an diesem Ende der Welt alles sehr un-metaphorisch: Angel tötet Paolo Poloverdos Eltern und vergräbt sie am Hügel hinter dem Haus, um selbst in dem Haus zu wohnen. Er schafft es jedoch nicht, das Kind zu töten; also kocht Paolo Suppe für den Mörder seiner Eltern und serviert sie an dem groben Holztisch, auf dem die Blutflecken noch über Jahre hin sichtbar sind. Es ist ein schicksalhaftes, wortloses Arrangement, das die beiden treffen: Der Zwang gebiert die Gewöhnung, die Gewöhnung die Abhängigkeit, die Abhängigkeit die emotionale Bindung. Das fragile Gleichgewicht gerät ins Wanken, als ein namentlich zweiter Mann, Luis Secundo auf seiner Flucht vor sich selbst zu den beiden stößt. Er wird in das Leben der beiden integriert – und dennoch zum Antagonisten. Luis kommt aus Valparaíso und verkörpert dieses Moment des Paradiesischen, indem er Paolo die ersten Buchstaben beibringt und ihm damit die Sehnsucht ins Herz pflanzt. Angel hingegen, der dunkle Engel schenkt Paolo ein Messer und bringt ihm bei, es im Sinne der Selbsterhaltung zu benutzen. Man hat das Gefühl, nach Brokeback Mountain versetzt zu sein: Jenseits aller Konventionen leben die beiden Männer sich selbst genügend mit dem heranwachsenden Jungen, werden ihm zu Vätern, trotzen dem kargen Leben mit abmagernden Ziegen und vereinzelten Suppenwurzeln das Nötigste ab. Begrenzt wird diese Welt – aus Paolos Sicht – nur vom Wald. Selbst wenn er sich Angel und
Luis instinktiv widersetzt und davonläuft, wagt er es niemals, den Wald zu betreten. AnneLaure Bondoux greift später auf dieses Motiv zurück und verortet die finalen Läuterungs- und Selbstfindungsprozesse ihrer Figuren ebenfalls in einem Wald.
Doch der Reihe nach: Als die Ressourcen im abgelegenen Haus nicht mehr ausreichen, entschließen Angel, Luis und Paolo sich, nach Punta Arena zu gehen, um dort neue Ziegen zu kaufen. Jedoch: Kaum haben sie ihr Refugium verlassen, kommen wieder die ursprünglichen (eigentlichen?) Existenzen der beiden Männer zum Vorschein. Angel wird wieder zum
Verbrecher, Luis wieder zum weltgewandten Erben, dessen Geld ihnen eine neue Lebensgrundlage verschaffen soll. Von deren „Ende“ her gelangt Paolo nun mitten hinein in die Welt, die alle sozialen Widrigkeiten und emotionalen Affekte des Mensch-Sein offenlegt. „Er glaubte, zwischen Himmel und Erde zu schweben. […] Er erlebte noch einmal seine Geburt, den engen Weg, der er sich durch den Bauch seiner Mutter hatte bahnen müssen. Jeder Atemzug fühlte sich an, als würde er die Luft zum ersten Mal schmecken. Er hörte seinen ersten Schrei als Neugeborenes, der all den anderen Schreien Antwortet, die seit
Anbeginn der Zeit und durch alle Generationen hindurch ausgestoßen wurde.“ (S. 78)
Ganz diesem Gefühl entsprechend, wird Puerto Natales der Ort des Neubeginns für Paolo sein – ein Portal, durch das er in ein selbstbestimmtes Leben und Angel in ein mögliches Jenseits schreitet. Vorgelagert ist diesem Jenseits die radikale Selbsterkenntnis, die Angel bereits im Diesseits erfährt:
Von Luis verraten müssen Angel und Paolo fliehen und treffen in einem Wald auf Riccardo, einen Holzfäller, der den beiden gastlich sein Haus öffnet. Es scheint sich erneut ein schlichtes, harmonisches und von der Welt abgeschiedenes Leben anzubahnen. Diesmal bereichert durch das kulturelle Niveau in Riccardos Haus und dessen Bibliothek. Doch rasch wird klar, dass Riccardos und Angels Leben auf ebenso grausame wie traurige Weise miteinander verbunden sind. Angel versucht, seine Schuld abzuarbeiten und sorgt damit unwissentlich und schicksalhaft für den Vollzug weltlicher Gerechtigkeit. Für Paolo hingegen wird der Wald, in dem Angel manisch den letzten Baum des Holzfällers Riccardo fällt, zum Bewährungsraum: Er stellt sich seinen Ängsten und wagt es Riccardo gegenüber die Wahrheit über Angel auszusprechen. Vergangenheit und Zukunft zeichnen sich gleichermaßen an diesem Ort ab, von dem aus Angel und Paolo getrennte Wege beschreiten müssen. Angel wird verhaftet, Paolo in die Obhut der Fürsorge gegeben.
Von Außen wird die Trennung der beiden als Befreiung eines Kindes aus den Fängen eines (als pädophil diskreditierten) Gewaltverbrechers benannt; für Angel und Paolo selbst findet eine Trennung vom jeweils einzigen Menschen statt, der für sie (emotionale) Zugehörigkeit verkörpert hat.
Anne-Laure Bondoux greift in ihrem neuen Roman zurück auf das Motiv des erlösenden Kindes, das in der literarischen Epoche der Romantik etabliert wurde. Sich selbst und seiner Welt fremd ermöglicht das Kind seinem Gegenüber die Befreiung aus Isolation und Angst. Johanna Spyris Heidi ist ein solches erlösendes Kind, aber auch Harry Potter. In seiner Figur wird das Moment der Erlösung christologisch gesteigert zur Erlösung vom Bösen an sich. Anne-Laure Bondoux führt das Motiv wieder zurück in die räumliche und soziale Kargheit, in der Heidi auf ihren Großvater getroffen ist. Naiv im Sinne der romantischen Philosophie, die im Kind den Inbegriff des Animistischen und Ursprünglichen gesehen hat, steht Paolo dem Mörder seiner Eltern gegenüber. Aus dieser reinen Existenz heraus erwächst die Zuneigung des Mörders zum Kind, die letztlich die raue Schale der Selbstverleugnung bricht und dem Mörder die titelgebenden Tränen der Selbsterkenntnis abpresst.
Anne-Laure Bondoux gleicht ihre Erzählsprache der zerklüfteten Landschaft an, schildert das Geschehen stilistisch karg und unterlegt die Ereignisse dennoch mit jenen kleinen (sprachlichen) Wundern, die auch das Ende der Welt landschaftlich hervorbringt.
Am Ende des Romans ist Paolos Leben zur Erinnerung in Bonbonform geworden. Süß. Klebrig. Verheißungsvoll. Angel und er haben einander – so die an den Ort Puerto Natales gebundene Erkenntnis – in ganz unterschiedlicher Weise das Leben geschenkt. Sein erster Weg in der Volljährigkeit führt Paolo dem entsprechend zum Gefängnis; doch Angel ist im Jahr zuvor erhängt worden. Von diesem letztgültigen Punkt der Trennung und des Neubeginns kann Paolos Weg nur noch zurück an den Anfang führen – und tatsächlich werden noch lose Erzählfäden dann auch zu einem glücklichen Ende verknüpft. An einem Ort, der am Ende der Welt liegt, und dennoch nicht deren Ende bedeutet.
Heidi Lexe
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