Rudolf Herfurtner: Magdalena Himmelstürmerin. Ein Roman aus der Lutherzeit. Hildesheim:  Gerstenberg 2013.

95 an die Schlosskirche zu Wittenberg geschlagene Thesen und „hier stehe ich, ich kann nicht anders“ – einige der Gründungsmythen des Protestantismus, so weiß man mittlerweile, haben wahrscheinlich so nie stattgefunden, werden aber, nicht zuletzt dank populärkultureller Fortschreibungen wie etwa dem „Luther“-Film von 2003 mit dem attraktiven Joseph Fiennes in der Hauptrolle, immer weiter tradiert. Wie es „wirklich“ war, ist ob der Quellenlage aus der Zeit des 16. Jahrhunderts schwierig festzustellen. Noch weniger aber weiß man, wie die damaligen Geschehnisse auf „das Volk“, die einfachen Leute wirkten, von deren Sichtweise ja mangels Lese- und Schreibkenntnissen überhaupt nichts überliefert ist. Rudolf Herfurtner, ein renommierter und mehrfach ausgezeichneter Autor, unternimmt hier in seinem „Roman aus der Lutherzeit“ den Versuch, die auf das berühmte Jahr 1517 folgenden Geschehnisse aus der Sicht eines jungen Mädchens, Magdalena Reinprecht, zu erzählen: Nachdem Vater und Bruder bei einem Bergwerksunglück ums Leben gekommen sind und die Mutter nicht mehr in der Lage ist, sie zu versorgen, wird sie von ihrem Heimatort Jüterbog zu einer Tante ins nahegelegene Wittenberg geschickt, wo sie bald auch vom Doktor Luder und dessen Lehren hört. Herfurtner legt in einem Nachwort schlüssig sein Verständnis seiner Rolle als Autor eines historischen Romans dar: „Die Entwicklung der Figuren hat ihre eigene Logik und Wahrheit. Und auch eine eigene Zeit, sie kann langsamer oder schneller laufen als die historische Zeit, weil die Dramaturgie eines Romans poetischen Gesetzen folgt und nicht den Regeln der Geschichtsschreibung.“ So wurde also die Abfolge historischer Ereignisse geringfügig verändert, um der Lebensgeschichte der Hauptfigur zu entsprechen, zentrale Begriffe werden in einem Glossar geklärt. Zu Beginn des Romans entspricht Magdalenas
Glaube und ihr Weltbild ganz dem, was ihr von klein auf vermittelt wurde, ob es nun um die
Sündhaftigkeit der Menschen, die wundersame Kraft von Reliquien oder die Wirksamkeit der Fürsprache Mariens geht. Doch die neuen Ideen, die ihr nicht zuletzt durch einen jungen Mann aus ihrem Heimatort vermittelt werden, verändern auch ihre Sicht auf die Welt.
Herfurtner widersteht dabei der Versuchung, seiner mittelalterlichen Heldin ein zu großes Maß an neuzeitlicher Weltsicht oder späterer Theologie einzuverleiben. Er versteht es vielmehr mit viel Gespür zu zeigen, was für eine lebensbestimmende Rolle der Glaube damals für Menschen hatte, was eine Weiterentwicklung aber nicht ausschließt: So entwickelt Magdalena auf manche Bräuche eine durchaus kritische Sichtweise, anderes wieder bleibt ihr weiterhin wichtig. Ohne jede Romantisierung werden verschiedenste Aspekte des damaligen Alltags beschrieben, inklusive der Allgegenwärtigkeit von Gewalt und Tod: So wird etwa Magdalena auf ihrer Reise nach Wittenberg überfallen, die Räuber werden später gefasst und für ihr Verbrechen gehängt. So ist es ein mit dramaturgischem Geschick komponiertes Stück Lebens- und Glaubensgeschichte, das hier erzählt wird – und deutlich macht, wie dieser Doktor Luder über alle tradierten Gemeinplätze hinaus die Welt für immer verändert hat. 

Kathrin Wexberg

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