Religiöses Buch im Juli 2013
Inés Garland: Wie ein unsichtbares Band. Aus dem argentin. Span. v. Ilse Layer Frankfurt/M.: Fischer 2013.
Wer von Politik, wer von (zeit)geschichtlichen Ereignissen literarisch erzählen will, steht immer vor der Gratwanderung zwischen umfassender Informationsvermittlung (Wer war damals an der Macht? Wie kam es zu welchen Geschehnissen?) und dem Erzählen. Dabei entspricht gerade jener Anspruch, den jugendlichen Leser*innen die geschilderte Zeit möglichst detailliert zu vermitteln, nicht unbedingt der erlebten Realität der Figuren: Denn wer als Jugendlicher (oder auch Erwachsener) eine politisch brisante Zeit miterlebt, bekommt ja oft nur ganz bruchstückhaft mit, was sich auf verschiedenen Entscheidungsebenen abspielt. Diesem ausschnitthaft, rätselhaft bleibenden Erleben folgt die argentinische Autorin Inés Garland im Erzählgestus ihres Romans, das erste ihrer Werke (Original 2009 erschienen und bereits preisgekrönt), das ins Deutsche übersetzt wurde. Die Ich-Erzählerin Alma ist ein wohlbehütetes Kind und wächst im Argentinien der 1970er Jahre in einer finanziell und gesellschaftlich gut situierten Familie heran. Die Wochenenden verbringt die Familie auf einer kleinen Insel außerhalb von Buenos Aires, die Nachbarskinder Carmen und Marito sind für Alma Spielgefährt*innen und Vertraute. Auch wenn in diesen Kinderfreundschaften gesellschaftliche Unterschiede noch keine Rolle spielen, sind es doch diese beiden, die Alma einen ersten Eindruck davon vermitteln, dass Leben, dass Beziehungen, dass Familie auch ganz anders ausschauen können, wenn man in ein anderes Umfeld geboren wird. Mit dem Älterwerden bricht der Kontakt zu Carmen plötzlich ab, in Marito aber verliebt sich Alma.
Zunächst meint Alma, die Ablehnung der Eltern gegen diese Beziehung habe nur mit dem Klassenunterschied zu tun, doch bald wird selbst ihr, die keinerlei Interesse an Politik hat, klar, dass sich Marito im Widerstand gegen die aufkeimende Militärdiktatur engagiert. Als Carmen eines Nachts völlig aufgelöst um Almas Hilfe bittet, ist die Zeit der Naivität endgültig vorbei – und als Carmen und Marito plötzlich verschwinden, muss Alma schmerzlich erkennen, dass die politischen Verhältnisse auch ihr Leben für immer verändern werden. Ein Epilog spannt abschließend den Bogen in die Gegenwart und zeigt, wie die Geschehnisse während der Militärdiktatur die argentinische Gesellschaft auch heute noch beschäftigen. Sprachlich sehr stimmig wird konsequent die Perspektive von Alma eingenommen, in deren adoleszenter Weltwahrnehmung zwischen großer Verliebtheit und versuchter Ablösung von den Eltern eigentlich kein Platz für größere Zusammenhänge ist – und damit für die Leser*innen umso deutlicher, wie untrennbar individuelle Lebensgeschichten von den politischen Rahmenbedingungen eines Landes und einer Epoche sind.
Kathrin Wexberg
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