Raquel J. Palacio: Wunder. Aus dem Engl. v. André Mumot München: Hanser 2012.

Doctors have come from distant cities
just to see me stand over my bed
disbelieving what they´re seeing

They say I must be one of the wonders  of God´s own creation
and as far as they can see they can offer
no explanation

Mit diesem Auszug aus Natalie Merchants Lied “Wonder” stellt Raquel J. Palacio, die bislang zwar in der Buchbranche, vor allem aber als Gestalterin von Buchcovern tätig war, ihrem Debutroman ein Motto voran, das sich explizit auf Gott und die Vielgestaltigkeit seiner Schöpfung bezieht. Sich tatsächlich als wunderbarer und so gemeinter Teil dieser Schöpfung zu begreifen, ist aber nicht leicht, wenn man so aussieht wie der zehnjährige Protagonist August: Sein Gesicht ist aufgrund eines seltenen Gendefekts entstellt. „Ich werde nicht beschreiben, wie ich aussehe. Was immer ihr euch vorstellt – es ist schlimmer.“ Aufgrund zahlreicher Operationen und daraus resultierender gesundheitlicher Probleme wurde er bis zum Einsetzen der Handlung daheim unterrichtet, doch nun, mit Beginn der Middle School, die ja schließlich für alle Kinder einen neuen Lebensabschnitt darstellt, beschließen seine Eltern, ihn endlich in eine normale Schule zu schicken. Der Roman folgt August also durch dieses für ihn erste Schuljahr, umgeben von Gleichaltrigen, in dem sich zeigt, dass nicht erst (wie aus zahllosen Teenie-Filmen und Serien wohlbekannt) die High School ein Ort von Intrigen, Missgunst und mehr oder weniger subtilem Mobbing ist. Die Probleme resultieren allerdings, und hier zeigt sich die Autorin als scharfsichtige Beobachterin gesellschaftlicher Dynamiken, nicht nur aus Gedankenlosigkeit und Gehässigkeit der anderen Kinder, sondern auch aus den Vorurteilen und Dünkeln der Eltern, die ihre Kinder vor der vermeintlichen Belastung, mit jemandem, der anders aussieht, konfrontiert zu sein, bewahren wollen, und dieses Anliegen auch ungeschminkt und mit drastischen Mitteln betreiben: Eine der stärksten diesbezüglichen Szenen ist eine, in der die Mutter eines Klassenkameraden August mittels Photoshop aus dem Klassenfoto wegretuschiert. Erzählerisch wählt Palacio eine multiperspektivische Form: Während die ersten 99 Seiten durchgehend als Ich-Erzählung von August gestaltet sind, sind die weiteren Kapitel aus Sicht von anderen Figuren, darunter seine
Schwester oder ein Freund erzählt, um dann im vorletzten und letzten Kapitel wieder zu Augusts Perspektive zurückzukehren. Diese Unterteilung macht deutlich, welche Folgen Augusts Anderssein auch für seine Umwelt hat – und wie sich hier wiederum die Frage danach stellt, wie das, was im Rahmen der Schöpfung eben auch passiert, so angenommen oder verhindert werden soll: Denn Augusts ältere Schwester Via hat für sich beschlossen, niemals Kinder zu bekommen, weil auch sie das defekte Gen trägt und eventuell weitergeben könnte. Neben dem titelgebenden „Wonder“ (das die Autorin kurz nach jener Begegnung mit einem entstellten Mädchen, die sie zur Handlung ihres Textes inspirierte, zufällig im Radio hörte), sind den Kapiteln zahlreiche andere Zitate aus Liedern, aber auch Büchern und Theaterstücken vorangestellt, von David Bowies „Space Oddity“ über Christina Aguileras „Beautiful“  bis hin zu „Hamlet“ und „Der kleine Prinz“. In ihrer (auch sprachlichen) Vielfalt unterstreichen diese medialen Verweise jedenfalls die Grundaussage, die dem mit erzählerischem Talent komponierten Roman zugrundeliegt: Ein Leben wie Augusts ist nicht immer einfach und nicht immer schön – und doch ein Wunder und lebenswert.

Kathrin Wexberg

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