Craig Silvey: Wer hat Angst vor Jasper Jones? Reinbek: Rowohlt 2012.                                 

„Am Anfang stand das Wort“, heißt es im Buch der Bücher, das uns Hoffnung prophezeit. Am Anfang war die Sprachlosigkeit, so könnte das Buch von Craig Silver beginnen. Aber es beginnt mit einem Fenster, dass geöffnet wird, und so den Blick freigibt auf die Welt der schweigenden Menschen, die so vieles besser gesagt hätten, denn dann wäre alles anders gekommen, oder?! 
Der 13-jährige Charlie Buktin, lebt mit seinen Eltern in einer australischen Kleinstadt. Seine Mutter, eine Frau aus besserem Haus, fühlt sich dort verloren und eingeengt. Laut und wortstark dominiert sie sowohl ihren Sohn als auch ihren Mann, der gern Schriftsteller geworden wäre, dieser Frau aber nichts entgegenzusetzen weiß, schon gar nicht verbal.
Charlies einziger Freund, ein aus Vietnam stammender Nachbarsjunge wird ausgegrenzt. Scheinbar trägt seine Familie die gesamte Verantwortung für den Vietnamkrieg auf ihren Schultern.
Ansonsten scheint in diesem Städtchen nichts Spannendes zu passieren, bis eines Abends jemand an das Fenster von Charlie klopft: Jasper Jones. Charlie hat noch nie mit ihm geredet. Warum auch? Er ist ein Außenseiter, ein Gesetzloser. Dieser Junge lebt schon lange selbstständig, nachdem seine Mutter gestorben und sein Vater dem Alkohol verfallen ist. Jasper Jones ist für die Kinder ein gefürchteter Held, für die Erwachsenen ein willkommener Sündenbock. Geschieht ein Unglück, kann nur dieser Junge daran schuld sein.
Jasper bittet Charlie um Hilfe und führt ihn zu seinem Geheimversteck auf einer
Lichtung, wo von einem Baum ein erhängtes und misshandeltes Mädchen hängt. Es ist Laura Wishart, Jaspers Freundin und die Tochter des Bezirkspräsidenten. Charlie und Jasper lassen Laura verschwinden, versenken sie in einem Tümpel, denn wenn man sie findet, wird man ihn zum Mörder erklären. Jasper nimmt Charlie das Versprechen ab, über das Gesehene zu schweigen und mit ihm zusammen den wahren Täter zu suchen. In dringendem Verdacht steht Mac Jack Lionel, ein weiterer von der Gesellschaft ausgeschlossener Bürger der Stadt, doch während Charlie des Rätsels Lösung sucht, sind es ganz andere Abgründe, die sich in Corrigan auftun.
Nichts ist, wie es zunächst scheint: Charlies Mutter hat einen Geliebten, der ausgegrenzte Mac Lionel ist Jaspers Großvater, die Erwachsenen erweisen sich als rassistisch und terrorisieren die Familie von Charlies Freund. Wenn doch nur endlich einmal jemand reden würde, wenn doch Laura über ihr Leben gesprochen hätte!
Der Schreibstil Craig Silvers erinnert sehr an Mark Twain. Die aufgegriffenen Themen Rassismus, unerfüllbare bzw. verbotene Liebe, Vorurteile, Schuld und Reue werden sehr tief gehend reflektiert:
Verzeihung bedeutet, neben dem eigenen auch den Pulsschlag des Schmerzes anderer zu spüren, und seine Reue auszusprechen heißt, einen Teil dieses Schmerzes auf sich zu nehmen. Es verbindet uns und lässt uns ebenso geplagt und gebeutelt zurück wie alle anderen. Reue kann viele Gesichter haben. Sie ist ein wieder aufgefülltes Loch. Eine zurückgezahlte Schuld. Reue ist das Kielwasser der schlechten Tat. Der lähmende Nachhall
der Konsequenz. Reue bedeutet Trauer, so wie Wissen Trauer bedeutet. Und manchmal ist Reue Selbstmitleid. Doch im Grunde geht es dabei nicht um uns selbst. Es ist an anderen, uns Verzeihung zu gewähren oder zu versagen. Dieses Verzeihung bedeutet, sich selbst zu öffnen
– für eine Umarmung, für Spott oder für Rache. Es ist eine Bitte um Vergebung, weil das Metronom eines guten Herzens nicht zur Ruhe kommen kann, bis die Dinge wieder ins Lot gerückt und richtiggestellt sind. Reue nimmt nichts zurück, sondern treibt die Dinge voran. Sie überbrückt die Kluft. Sie ist ein Sakrament. Eine Opfergabe.”

Ein wunderbares Buch, das zum Nachdenken über sich selbst, seine Mitmenschen und vor allem über Schein und Sein in unserem Leben anregt. Ein Buch über Macht und Ohnmacht der (un-)ausgesprochenen Wörter, bei dessen Lektüre auch den Lesern immer wieder die Worte fehlen werden, um das, was dieses Buch in ihren Köpfen auslöst, wiederzugeben.

Sylvia Müller 

>>> hier geht es zu den Religiösen Bücher 2013