Edith Schreiber-Wicke / Carola Holland: Du wirst den Mond vom Himmel holen. Stuttgart/Wien: Thienemann 2012.

Das 2010 mit dem Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnete Bilderbuch „Wie war das am Anfang“ stellt an den Schöpfer allen Lebens die Frage, wie er sich noch vor der Existenz jenes Kind gedacht hat, das nun die Welt betritt. Auch die österreichische Autorin Edith Schreiber-Wicke hat schon einmal in einem Kinderroman von einem unbestimmten Ort des Davor aus Fragen an ein solches zukünftige Leben gestellt – damals ging es um ein „Regenbogenkind“ (so auch der Titel). Nun positioniert sie in einer ganz ähnlichen Erzählhaltung ein Du, dem sie den Wert der Lebenserfahrung in Aussicht stellt – und damit ein kindliches Leben in Blick nimmt, das nicht von außergewöhnlichen oder gar schwierigen Umständen bestimmt ist (beim Regenbogenkind hat es sich um ein Mädchen mit Behinderung gehandelt): „Du wirst Purzelbäume in den Himmel wachsen lassen und kunterbunte Träume ernten.“ Mit dieser Verheißung setzt das Bilderbuch bereits am Vorsatzpapier ein; die kindliche Figur, die hier über das Hochseil des Lebens zu balancieren beginnt, ist unbestimmten Alters. Angesprochen kann also jedes Kind sein, dem man (zum Beispiel zu einem besonderen Anlass) als Vorlesende/r wünscht, ein auch emotional reichhaltiges Leben zu führen: „Du wirst Dinge besitzen, die du dir immer gewünscht hast.
Und merken, dass du reicher wirst, wenn du etwas verschenkst.“ 
Das bestimmte „Du wirst“ mit dem die jeweiligen Doppelseiten eingeleitet werden, entspricht dabei dem expliziten Wunsch nach Selbstbestimmung, der in allen Variationen der VorausSchau mitschwingt: „Du wirst Du selbst sein“, heißt es da, wenn es um den löwenhaften Kampf gegen Ungerechtigkeit geht. „Du wirst Gedankenmonster verjagen. Bissige Wörter zähmen.“ Dieses Du jedoch erweitert sich glückhaft zum Wir: „Du wirst jemanden treffen und wissen: Jetzt sind wir wir. Du wirst für euch beide den Mond vom Himmel holen. Und ihn wieder ordentlich an seinen Platz zurückstellen. Vielleicht braucht ihn noch jemand.“  Eine Gottesbeziehung wird unter diesen utopierten Lebensoptionen nicht explizit angesprochen. Und doch schwingt sie immer mit – im Besonderen natürlich dort, wo es um das Vertrauen oder den größeren Plan geht, in den das Leben des Du gestellt ist. Wenn es heißt: „Die Kraft wird mit dir sein“, mag das an einen modernen Mythos aus der
Filmwerkstatt des George Lucas und den dort gepflegten Wunsch „Möge die Macht mit Dir sein“ erinnern; dennoch impliziert diese Kraft auch eine religiöse Lesart. Darüber hinaus sprechen die Festigkeit in Überzeugungen ebenso wie die Annäherung an Geheimnisse lebensphilosophische Fragen gleichermaßen an wie ein Leben im Glauben: „Du wirst dahinterkommen, was der Wind macht, wenn er nicht weht.“ Das göttliche Flüstern, das Elia im Windhauch wahrnimmt, verbirgt sich für jene, die dieser Deutung folgen wollen, auch hier.
Die Stärke des Bilderbuches liegt jedoch darin, dass eben nicht überbordende
Gedankenkonstrukte bemüht werden. Vielmehr wird mit Sprachbildern gearbeitet, die für Kinder naheliegend und leicht fassbar sind. Auch die Illustrationen verorten die Verheißungen im kindlichen Alltag – gemeint kann damit durchaus auch jene Phantasiewelt sein, die für Kinder zum Alltag gehört. Wenn Carola Holland also großflächig und mit Lust am Figuralen den Märchendrachen ebenso in Szene setzt wie das durch das Weltall skatende Kind, dann bekommt der kindliche Erfahrungshorizont ebenso zentrale Bedeutung wie die kindliche Einbildungskraft.
An dieser Stelle ist das Bilderbuch als eine Monatsempfehlung gedacht, die auf ansprechendem Niveau der traditionellen Vorstellung von einer Literatur für Kinder entspricht. Es handelt sich um ein Bilderbuch, das nicht an den Bruchlinien des kindlichen Lebens ansetzt, sondern mitten hinein gestellt ist in den kindlichen Alltag und die Fragen, die dieser Alltag an Kinder stellt.

Heidi Lexe

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