Shaun Tan: Der rote Baum. Aus dem Engl. v. Eike Schönfeld Hamburg: Carlsen 2012.

Bereits im Vorsatzpapier fällt ein vereinzeltes dunkles Blatt und noch bevor die Geschichte beginnt, tröpfeln Buchstaben wie ein Hilferuf aus einem Megafon. Doch die Buchstaben verlaufen sich, lassen Schlieren zurück, die sich durch die Bildränder der folgenden großformatigen Illustrationen ziehen. Shaun Tan, zuletzt für seinen animierten Kurzfilm „The Lost Thing“ sogar mit dem Oscar ausgezeichnet, gelingt es einmal mehr mit solchen Details zu verführen und ihnen Illustrationen folgen zu lassen, deren Wunderwelten dem
Schlaraffenland eine Absage erteilen und Formsetzungen industrialisierter Sujets mit in sich verschlungenen Fantasiefiguren zu kombinieren. 
Hier nutzt er diese Formsetzung, um von Traurigkeit und Depression zu erzählen. Das fallende Blatt nämlich dringt ein in das Zimmer eines kleinen Mädchens, in dessen Leben ein Tag „ohne Aussicht auf etwas Schönes“ beginnt. Plötzlich überflutet ein ganzes Blättermeer das Zimmer und das Mädchen flüchtet, um sich mit jeder neuen Doppelseite zu bestätigen, das solche Tage „nur noch schlimmer“ werden können. Sie flieht hinaus in eine Welt, in der die Öde anwächst, in der das Dickicht der Städte nicht mehr überwindbar scheint, in der die Traumbilder ebenso wie die Wellen hoch schlagen, in der künstlerische Trugbilder nicht mehr funktionieren. Eine Welt, in der das kleine Mädchen (sich selbst ausgesetzt ist): Eine Doppelseite mit acht Panels, die geometrisch angeordnet und dennoch verloren im Bild-Raum stehen, zeigt das wartende Mädchen. Der zeitliche Ablauf wird verlangsamt, ins scheinbar unendliche gedehnt, indem das Mädchen Striche auf einen vorerst unbestimmten Untergrund zeichnet. Vier Längsstriche, ein Querstrich. Der Blick des Illustrators zoomt dabei zurück, das kleine Mädchen wird immer winziger und letztlich nur noch als kleiner Punkt auf dem Haus einer Schnecke sichtbar, die nach und nach in den Blick kommt und mit der die Langsamkeit vergehender Zeit den Moment des Stillstandes erreicht. Es sind Zeichensetzungen wie diese, mit deren Hilfe Shaun Tan in seinen ausgeklügelten, überbordenden und dennoch auf einen zentralen Bildeffekt hin gestalteten Illustrationen Emotion einfängt und sie in Zeit und Raum stellt. Er collagiert eine Stadtlandschaft aus Zeitungsausschnitten und färbt sie blutrot ein. Flugzeuge und Hochhäuser sind förmlich ineinander verkeilt, im Hintergrund sind im Nichts verlaufende Autobahnschleifen sichtbar. „Ohne Sinn und Verstand“ erscheint dem Mädchen in dieser Doppelseite ihr Tag und Shaun Tann findet für das individuelle Unglücksempfinden ein zivilisationskritisches Bild, das sich durchaus apokalyptisch steigern lässt, wie die Doppelseite zeigt, auf der es heißt: „keiner versteht mich“: Wie eine verlorene Flaschenpost bleibt das Mädchen in einer verödeten Landschaft zurück, im Schlackenwasser der Welt, auf dem Kopf einen überdimensionierten historischen Taucherhelm. Am gewitterschwarzen Himmel zeichnen sich giftige Wolkenbilder ab. Und dennoch vermag auch kein Illustrator solche Szenarien mit so einfachen Mitteln aufzubrechen wie Shaun Tan: Am Ende des Tages kehrt das Mädchen in jenes kleine Zimmer zurück. Das Blättermeer ist verschwunden und aus einem kleinen roten Blatt wächst der titelgebende rote Baum als Bild der Hoffnung und des Glücks: „genauso wie du es dir vorgestellt hast“. Diese farbliche Akzentuierung zeigt schlicht und eindringlich, wie Hoffnung und Leid integraler Bestandteil des jeweils anderen sind. Ein Bilderbuch, das sich in seiner Schönheit und Eindringlichkeit an ganz unterschiedliche Altersstufen und deren jeweiligen Verständniskontext richtet.

Heidi Lexe

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