Religiöses Buch im Oktober 2011
Heinz Janisch / Linda Wolfsgruber: Wo hört das Meer auf? Wien: Wiener Domverlag 2011.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe /
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne
In seinem in den frühen 1940er Jahren veröffentlichten Gedicht „Stufen“ formuliert Hermann Hesse den Wert des Lebens – von dessen Ende her begriffen. „Des Lebens Ruf“, den er darin formuliert, entspricht das „Schau!“, mit dem bereits auf dem Vorsatzpapier dieses Bilderbuches zu einer Welterkundung eingeladen und mit dem jede Doppelseite neu eröffnet wird: „Schau! Der Wind dreht das Windrad! / Und – wer dreht den Wind?“
Auf die Thermik des Lebens an sich wird dabei abgezielt, auf jene „Lebenskreise“, die in Hermann Hesses „Stufen“ bestimmt werden von „Aufbruch und Reise“. „Schau! Da ist das Meer. / Und – wo hört das Meer auf?“ Wo also hört das Leben auf, wo fängt es an?
Einmal mehr widmen sich die beiden österreichischen Künstler*innen Heinz Janisch und Linda Wolfsgruber der Frage nach dem Anfang. Für ihr 2009 erschienenes Bilderbuch „Wie war das am Anfang“ wurden sie 2010 ja mit dem Katholischen Kinderbuchpreis der Deutschen Bischofskonferenz ausgezeichnet. Nun aber fragen sie nicht nach dem Anfang im Sinne des schöpferischen Aktes, sondern nach dem steten Neubeginn, der das Sein und Dasein prägt. Denn hinter jeder Erkenntnis, hinter jedem „Schau!“ verbirgt sich eine Frage und mit jeder dieser Fragen eröffnet sich ein Kosmos des Erforschens, Erkundens und der Neuperspektivierung:
Schau! Wie die Schatten im Licht tanzen! / Und – was machen die Schatten, wenn es dunkel ist?
Schau! Da kann man Berge sehen! / Und – was sehen die Berge?
Zwei Stimmen sind es also, die Staunen und Nachfrage formulieren. Die Stimme eines Erwachsenen und eines Kindes; dies legt die erste Doppelseite nahe, in der ein/e in die Welt weisende/r Erwachsene/r ein Kind an der Hand und mit hinaus in die Nacht nimmt. „Schau! Wie die Nacht leuchtet! / Und – wie bringen wir den Tag zum leuchten?“ In diesem Licht der Erkenntnis zeigt sich, dass hinter der kindlichen Stimme die menschliche Stimme an sich verborgen ist – jene Stimme also, die ihr Dasein auf dessen Sinn und Geheimnis hin befragt. Der Sinn des Lebens kann damit ebenso gemeint sein wie das Geheimnis des Glaubens: „Schau! Wie groß der Tod ist! / Und – wer ist größer als der Tod?“
Heinz Janisch ist ein Meister der sprachlichen Reduktion und ermöglicht es Linda Wolfsgruber damit, mit jedem Umblättern eine neue Bildwelt zu entwerfen – und damit auch die Vielfalt und den Zauber des Lebens immer neu auszubreiten. Sie deutet dabei nicht aus sondern an: Ihre zurückhaltend platzierten Figuren erhalten Verweischarakter, sind oftmals Verborgen, kaum zu erkennen und haben doch stets metaphorische Funktion. Sie schippern paarweise in einer Arche, schlafen den Schlaf der Gerechten, sind eingehüllt in einen Szenerie der Geborgenheit, während ein Schutzengel sie beschützt. Der Eindeutigkeit entzieht sich Linda Wolfsgruber, indem sie Papier übereinander legt, Transparenz erschafft, Räume in farblichemotionale Flächen auflöst oder Gegenbewegungen herstellt – indem zum Beispiel der Schleier des Todes gegen dessen Laufrichtung weht.
Kindlichen Betrachter*innen ermöglicht sie mit Formen, Objekten und Figuren das Entdecken und Nachfragen, sodass die vom Text eröffneten Möglichkeiten des Philosophieren und Theologisierens bildlich weitergesponnen werden können. Denn letztlich zielt das Bilderbuch auf einen Rollentausch ab: Nicht der Erwachsene soll die Welt erklären, sondern das Kind die Welt befragen. Auf der letzten Doppelseite ist es die kindliche Figur, die die erwachsene an der Hand zieht, zurück ins Haus; vielleicht sogar in ein letztgültiges Zuhause: „Schau! Wie in jedem Ende ein Anfang ist! / Und – wo fängt der Anfang an?“ Wie jede Frage gebiert auch diese Frage bereits eine neue; eine neue Lust an der Welterkundung, eine neue Lust an der Sprache. Die Lust eine neue Stufe im Sinne Hermann Hesses zu nehmen, denn „ jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“.
Heidi Lexe