Phantastik-Tipp der STUBE
Alina Metz
Überreuter 2025.
384 S.
Alina Metz: Tinte, Staub und Schatten. Das Buch der Verlorenen.
Ein wahrer Büchersucher ist rettungslos verirrt, ohne dass sein Fuß fehlgeht. Er ist verloren, ohne es zu wissen. Oder nein.
Ein wahrer Büchersucher weiß, dass er an das Labyrinth verloren ist, doch er ist glücklich darüber.
Das ist sein Leben. Er will kein anderes.
Sich zwischen Buchseiten zu verlieren, klingt für begeisterte Leseratten im ersten Moment sicher erstrebenswert. Doch wenn aus der Metapher eine Tatsache wird, verliert sich die Romantik: Unter mysteriösen Umständen kommt Minnas Mutter inmitten magischer Wälzer im Bücherlabyrinth ums Leben. Die magische Bibliothek unter der Stadt beherbergt nicht nur alte und seltene Bücher, sondern magische Kreaturen: Schattenweber, Zeitungsschlangen, Gespinste, leuchtende Schwämme und tintengeborene Ungeheuer, die sich nur zu gern auf menschliche Besucher*innen stürzen. Das Bücherlabyrinth zu betreten, erfordert neben Mut und Orientierungssinn deshalb eine mehrjährige Ausbildung bei der „Alexandrinischen Gesellschaft“.
Elf Jahre nach dem Tod ihrer Mutter beginnt die nunmehr sechzehnjährige Minna beim Antiquar Raban diese Lehre, um die letzten Stunden im Leben ihrer Mutter zu rekonstruieren. Widerstrebend, aber gewissenhaft widmet der eigenbrötlerische Raban sich der Ausbildung seiner nunmehr drei Schützlinge: Neben Minna sind sein tollpatschiger Sohn Gulliver und der begabte, zunächst unnahbare Jascha Lehrlinge im Antiquariat. Sie lernen, sich im Labyrinth zu orientieren und mit den berufstypischen Werkzeugen umzugehen: Klimax-Leitern, Hyperbel-Speeren und besonderen Kompassen. Auf ihren Streifzügen durch die Regale findet Minna einen alten Spiegel, aus dem ihr eine bekannte Gestalt entgegenblickt: ihre Mutter! Doch nicht J.K. Rowlings Spiegel „Nerhegeb“, der Herzenswünsche zeigt, lässt hier grüßen, sondern vielmehr Neil Gaimans „Coraline“ – denn der Spiegel ist ein Gefängnis. Im Kampf gegen einen machtgierigen Büchersucher, den mangels Identitätsfeststellbarkeit alle nur „Anonymus“ nennen, konnte sie durch die Flucht in den Spiegel ihr Leben retten, für den Rückweg braucht sie ein magisches Buch. Minna macht sich auf die Suche nach dem „Buch der Verlorenen“, das dem Laybrinth alles Verborgene und Versperrte entlocken kann.
Ist es Zufall, dass sich gerade jetzt Gerüchte mehren, Anonymus sei zurück? Hat er vom Überleben von Minnas Mutter erfahren und will zu Ende bringen, was er angefangen hat – ihren Tod und die Herrschaft über das Laybrinth? Steckt der Dieb, der immer wieder in Minnas Nähe auftaucht, mit Anonymus unter einer Decke?
Und was weiß Raban von der Nacht, in der ihre Mutter verschwand? Hat auch er gegen Anonymus gekämpft – oder ist er Anonymus?
Zusammen mit Gulliver und Jascha, Parzival und Effi (deren Geschichte hier nicht gespoilert wird) dringt Minna tief ins Innere des Labyrinths vor, in Gebiete, die schon lange von keinem Menschen mehr betreten wurden und so baufällig geworden sind, dass jeder Schritt ins Bodenlose führen kann.
Das Regal neigte sich rasend schnell, kippte gegen das nächste. Minna und die anderen sprangen hinüber, doch auch dieser Standort blieb nicht lange sicher. Raban hatte eine gewaltige Kettenreaktion ausgelöst. In beide Richtungen fielen die Regale wie Dominosteine, und sie waren mittendrin. Sprangen von einer Gefahr in die nächste. Staubflocken umwirbelten Minna, doch sie wusste, dass sie nicht eine Sekunde zögern durfte. Tat sie es doch, würden sie die kippenden Regale, auf denen sie wie auf einer Welle ritt, überholen, sie würde aus dem Gleichgewicht geraten und zwischen dem malmenden Holz zerquetscht werden.
Zwischen mörderischen Staubwolken, Tintenwölfen, Echsen und berstenden Spiegeln kommt es zum Showdown…
…über den hier nichts verraten wird. Alina Metz‘ Kinderbuchdebüt wartet mit vorhersehbaren und unvorhersehbaren Wendungen auf, denen zu folgen in jedem Fall spannend und auf hohem sprachlichem Niveau unterhaltsam ist. Von den Werkzeugen der Büchersucher, die die Namen rhetorischer Figuren tragen und diese bildlich umsetzen, über die Namen der Figuren (neben den bereits erwähnten: Cassandra, Edda, Litotes) und weitere zahlreiche intertextuelle und intermediale Anspielungen bis hin zu Rabans Angewohnheit, seine Schützlinge als Märchenfiguren anzusprechen – der Zauber des sorgfältig gewählten Wortes zieht sich auf allen Ebenen durch den Roman.
Die Elemente Tinte, Staub und Schatten (die den Aggregatszuständen „flüssig“, „fest“ und mehr oder minder „gasförmig“, weil substanzlos, entspricht) sind die Urstoffe des Labyrinths und gleichzeitig denkende Wesen, die sich frei bewegen und in die Geschehnisse eingreifen können, das aber selten tun. Als Minna Staub aus der Ferne sieht, wird das als gutes Omen gedeutet.
Neben Sprache und Weltbild, das sich aus originären Einfällen und Versatzstücken aus der Literaturgeschichte zusammensetzt, überzeugen die Figuren, die von Lia Visirin in Porträtform vorgestellt werden. Ähnlichkeiten mit noch lebenden oder rein fiktiven Personen sind hier garantiert kein Zufall (Gullivers Ungeschicktheit erinnert verstörend an Bella Swan, Jaschas Besserwisserei an Hermine Granger vor der Begegnung mit dem Troll), sie nehmen den Charakteren aber nichts von ihrer Liebenswürdigkeit. Dass jede*r ein Geheimnis mit sich trägt, stärkt letztlich das Verständnis unter den Gefährten.
Am Ende jedes Kapitels wird ein bibliophiles Zitat angeführt, oft aus fiktiven Werken aus der Welt der Büchersucher, aber auch aus fiktionalen Titeln wie Eduard Mörikes „Der Schatz“, Miguel de Cervantes „Don Quijote“ oder Märchen der Brüder Grimm. Minnas Märchenbuch bildet den Aufhänger für den zweiten und abschließenden Teil, der im zweiten Halbjahr 2025 erscheint: Raban verrät ihr, dass die Mutter nicht das einzige Familienmitglied war, das im Labyrinth verschwand. Vor Minnas Geburt ging ihre ältere Schwester Lotte zwischen den Regalen verloren. Wird sie sie retten können?
Simone Weiss
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