Aus d. Franz. v. Edward Jacoby.
Jacoby & Stuart 2024.
64 S.

Sébastien Perez und Benjamin Lacombe: Die Kindheit der Bösen, Fiesen und Gemeinen

Wir alle kennen den mächtigen, bösen Tiger Shirkan aus „Das Dschungelbuch“, der den Wald in Angst und Schrecken versetzt, oder Maleficent, die böse Fee, die Dornröschen verfluchte. Auch die berüchtigte Figur des Blaubarts löst meist Unbehagen aus. Doch warum sind diese Charaktere der dunklen Seite verfallen? Niemand wird böse geboren - oder etwa doch?

Benjamin Lacombe illustriert in seinem neuesten Buch, wiederum zu Texten von Sébastien Perez, die Kindheit von verschiedensten berüchtigten Bösewichten und zeigt sie in einem unschuldigen und reinen Licht, wie man sie noch nie zuvor gesehen hat. Dracula mit großen, Kuller-Augen – wer könnte da widerstehen, ihm ein wenig Blut zu spenden? Dieses subtile Changieren zwischen Böse und doch irgendwie niedlich macht auch die Texte aus: In 29 kurzen Geschichten werden die Anfänge der Bösewichte auf skurrile, aber auch zutiefst emotionale Weise erzählt. Wir erleben ungerechte Umstände, die die Charaktere zu dem gemacht haben, was sie sind, sowie Figuren, die schon immer einen tiefen Zorn auf die Welt hatten und diesen bereits in ihrer Kindheit auslebten. Ein Beispiel für die erstere Variante ist der kleine Captain Hook: James hatte außer einem Krokodil wenig Freunde. Als der Anführer einer Jungsbande meinte, James würde erst dann dazugehören, wenn er seinem Krokodil ein Stück Fleisch herausschnitt, verlor der junge Captain bei dem Versuch auch seinen einzigen Freund…

James kehrte mit leeren Händen zur Schule zurück, wurde von allen Seiten bespuckt und beweinte den Verlust seines Freundes. In diesem Moment aber beschloss er, sich nie wieder etwas gefallen zu lassen.

Lacombe und Perez schaffen es meisterhaft, Mitgefühl und Verständnis für manche dieser ikonischen Bösewichte zu wecken. Ihre Kindheitsgeschichten sind nicht nur erschreckend und düster, sondern auch zutiefst menschlich. Sie zeigen, dass die Grenze zwischen Gut und Böse oft verschwommen ist und dass selbst die dunkelsten Charaktere einst unschuldige Kinder waren. Ein anderer Fall ist unsere heißgeliebte Herzkönigin. Die kleine Spielkarte war stets erzürnt darüber, nicht auch endlich ins Spiel zu kommen. Als ihre Mutter sie dann auch noch zurechtwies, war ihr Zorn nicht mehr aufzuhalten. Sie stieß ihre Mutter vom Geländer und bestieg ab diesem Zeitpunkt selbst den Thron. Nicht nur popkulturelle Bösewichte finden sich in diesem Buch, auch mythische, sagenhafte und historische Figuren sind vertreten. So wie Yama Uba, die Berghexe aus der japanischen Folklore, oder Baba Jaga, eine bekannte Gestalt aus der slawischen Mythologie, die wohl so manche Kindheit geprägt hat. Sie wohnt in einer Hütte, die auf Hühnerbeinen steht, was Lacombe in seiner Illustration spielerisch aufnimmt. Zuletzt bekommen wir sogar kurze Einblicke darüber, was aus den Bösewichten heute geworden ist, begleitet von kleinen Porträts. So zum Beispiel Jack mit der Laterne:

Er verhandelt mehrfach mit dem Teufel und legt ihn am Ende herein. So kann der ihn nicht holen. Bei seinem Tod wird ihm wegen seines unsteten Lebenswandels auch der Eintritt in den Himmel verwehrt. Deshalb ist er dazu verdammt, ziellos über die Erde zu irren, mit einem ausgehöhlten Kürbis als Laterne, die ihm den Weg weisen soll.

Ein Buch, das auf sprachlich und visuell höchstem Niveau einlädt, einen zweiten Blick auf das vermeintlich eindeutig Böse zu richten und die verletzlichen, menschlichen Seiten von Charakteren zu entdecken, die eigentlich für ihre Untaten bekannt sind.

Carmen Schiestek

 

 

 

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