Phantastik-Tipp der STUBE
Aus d. amerikan. Engl. v. Christel Kröning, Hanna Christine Fliedner und Christopher Bischoff.
cbj 2025.
640 S.
Saaba Tahir: Heir
„Nimm dich in Acht. Es liegt was in der Luft. Die Geister sind unruhig. Etwas kommt auf uns zu.” Nein, dachte Quil, während sie mit der Dunkelheit verschmolz, etwas ist bereits hier.
Tatsächlich kommt die Warnung zu spät: Ein bösartiges magisches Wesen hat begonnen zu morden und Krieg bricht über das Imperium herein.
Das Rätseln, wer als titelgebender Erbe (von engl. heir) potenziell Rettung bringen könnte, beginnt bereits am Cover: Auf dem Einband des Buches präsentiert sich dem Lesepublikum in einer an Holzschnitt erinnernde Technik eine Figur auf einem Berggipfel. Auch nach der Lektüre ist allerdings keineswegs eindeutig, um wen es sich bei der dargestellten Figur handelt, von der anzunehmen ist, es sei der Erbe (von engl. heir).
Die Figur scheint männlich zu sein, also nicht Aiz.
Diese hat als Angehörige des Volks von Kegar die magische Fähigkeit, Wind zu lenken. Allerdings ist diese Gabe zuerst rudimentär und wird erst während ihrer Suche nach Div, der heiligen, sagenumwobenen höchsten Priesterin ihres Volkes, stärker. Jene Reise stellt den Handlungsstrang dar, der zeitlich vor den anderen liegt. Er nimmt seinen Ausgang mit Aiz’ Inhaftierung wegen des Attentats auf einen tyrannischen Adeligen, der ein Verbrechen an von ihr geliebten Menschen ungestraft begangen hat.
Geographisch am anderen Ende der Fantasywelt präsentiert sich der nächste mögliche Kandidat für den titelgebenden Erben: Quil, oder besser Zacharias Marcus Livius Aquillus Farrar. Er ist der Kronprinz des Imperiums, das am Beginn des Textes angegriffen wird und ohne Atempause in einen verlustreichen Krieg schlittert. Quil wird von seiner Tante, der Imperatrix, fortgeschickt, um als zukünftiger Herrscher einerseits unterzutauchen und andererseits im Hintergrund Informationen zu beschaffen.
Unterwegs ist er mit seinen engen Freund*innen Sufiyan und Aurelia. Mit ersterem verbindet Quil der gewaltsame Verlust zweier Menschen, die vor etwa einem Jahr einem grausamen Mord zum Opfer gefallen sind. So verknüpft Saaba Tahir geschickt für ihre psychologisch komplex gezeichneten Figuren die individuellen und globalen Katastrophen.
Sufiyan betrauert seinen kleinen Bruder. Als Sohn eines mächtigen Kriegers, könnte auch er als Erbe gesehen werden, wobei das womöglich erst der zweite Band der Duologie enthüllen könnte. Jedenfalls beauftragt just Sufiyans Vater eine Fährtenleserin, um dem Mörder auf die Spur zu kommen. Auf diesem Weg trifft man möglicherweise einen alten Bekannten: Elias aus der “Elias & Laia”-Serie der Autorin (im Original „An Ember in the Ashes”-Serie), die etwa 20 Jahre vor „Heir” angesiedelt ist. Auch die Figur, die Elias anheuert, könnte heir sein:
Sirsha, die aus ihrem Stamm wegen Magiemissbrauchs verbannt wurde, ist eine begabte Kopfgeldjägerin, die außergewöhnlich gut mit Erde, Luft und Wasser kommunizieren kann.
Jede dieser Figuren hat ihre Geheimnisse und Narben aus der Vergangenheit. Wie ihr Weg, ihre Herkunft und ihre Kulturen miteinander verwoben sind, ist zentral für den komplexen Weltenbau der Autorin.
Zu betonen ist dabei auch, dass die aktuelle Serie unabhängig von der vorausgegangenen „An Ember in the Ashes” gelesen werden kann, auch wenn man dann natürlich auf Wiedererkennungsmomente verzichten muss.
Eine Stärke der Erzählung von Tahir liegt in der Darstellung der Entwicklung ihrer Figuren und auch darin, Verständnis (zumindest zeitweilig) für Antagonist*innen aufzubauen, die sich ja selbst nicht als negativ betrachten. Von großem erzählerischem Geschick zeugt auch, dass die zeitversetzten Erzählstränge, sich an einem bestimmten Punkt aufzulösen scheinen, aber es auch danach noch (mindestens eine…) überraschende Wendung gibt.
Die Frage danach, was einen Menschen zum Monster machen kann, spielte bereits in der Vorgängerserie eine wichtige Rolle und wird nun unter ganz anderen Umständen erneut gestellt. Gängige Elemente von Fantasy werden geschickt adaptiert; etwa das langsame Wachsen der zuerst fingierten Beziehung eines Pärchens, was durch das Dingsymbol der Adah-Schwurmünze, die die Verbindung spiegelt, gelungen dargestellt wird. Die traditionelle Konstellation ‘Enemies to Lovers’ (Feind*innen zu Liebenden) wird mit Esprit umgesetzt, etwa indem man auch von lovers to enemies sprechen kann - je nach Sicht der Figur.
Der Fokus der Erzählung liegt auf Aiz, Quil und Sirsha. Aber in der Stimmenvielfalt der personalen Erzählperspektiven kommen auch mehrere andere vereinzelt zu Wort.
Wer letztendlich den am Cover dargestellten Gipfel – des Sieges?, der herrschenden Position? der Einsamkeit? des Windes? der alten Heimat der Kegari? – besteigt, wird der zweite Teil der Duologie zeigen. Oder handelt es sich vielleicht gar nicht um eine Metapher, sondern einen tatsächlichen Berg im Gebiet des Imperiums und des südlichen Kontinents, der bestiegen werden muss?
Sonja Loidl
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