Phantastik-Tipp der STUBE
Loewe 2024.
576 S.
Ursula Poznanski: Scandor
Der Mensch lügt. Vermutlich jede und jeder lügt in seinem Leben. Ob eine kleine Notlüge oder ein bewusstes Verfälschen von Tatsachen. Diesen Umstand nützt die österreichische Autorin, um das Setting ihres neuen Thrillers aufzubauen, in dem sie eine besondere Challenge entwirft. Der Preis: fünf Millionen Euro; die Aufgabe: auf jede Form des Lügens zu verzichten; der Einsatz: der schlimmste Alptraum. Mittels einer modernen Technologie wird allen Teilnehmer*innen ein Lügendetektor implantiert, der mithilfe von Temperatursignalen mit dem menschlichen Organismus kommuniziert und dabei auch Nachrichten empfangen kann. Sobald auch nur die kleinste Notlüge ausgesprochen wird, katapultiert man sich selbst ins Aus und muss den größten Alptraum durchleben, der im Text vom lebendig begraben werden bis zur Auseinandersetzung mit einem verhassten Familienmitglied reicht.
In dieses Setting stellt Poznanski zwei jugendliche Figuren, deren Wege sich vermutlich niemals gekreuzt hätten: Philipp und Tessa, die gemeinsam mit 98 scheinbar per Zufall ausgewählten anderen Personen nun versuchen, die Challenge für sich zu entscheiden. Aus unterschiedlichen Gründen brauchen sie das Geld, mit unterschiedlichen Alpträumen gehen sie in das Spiel und lernen dabei sich und einander (besser) kennen. Die Besonderheit des Thrillers liegt in der Kombination des Erzählten: Während einerseits das Lügen seinen Lauf nimmt, immer mehr Teilnehmer*innen sich selbst und Konkurrent*innen mit übelsten Tricks aus dem Wettkampf nehmen, wird andererseits auf die Charakterzeichnung der beiden Hauptfiguren fokussiert, die doch etwas gemein zu haben scheinen, was sich jedoch erst vom Ende her aufdröselt. Die vordergründige Handlung ist dabei in eine kompliziert gestrickte Hintergrundgeschichte rund um ein dramatisches Bootsunglück eingebettet, die häppchenweise entschlüsselt wird, den*die Lesende aber immer wieder ratlos zurücklässt, ohne dabei die Dramaturgie des Textes zu stören.
Im Fokus bleibt dabei stets die Lüge und deren mögliche Auswirkungen: Ohne den erhobenen Zeigefinger zu bemühen, legt Poznanski eine kleine Gesellschaftsstudie vor, die aufzeigt, in welcher Form der Mensch tagtäglich lügt. Das nutzt sie zugleich aber auch für ausgeklügelte Taktiken einiger Challenge-Teilnehmer*innen, die mit gekonnt gestellten Fragen das Lügen anderer provozieren bzw. die Wahrheit aus ihnen herauskitzeln. Dieserart sind alle Teilnehmenden auf die Wahrheit zurückgeworfen, die im dramatischen Finale auf die Spitze getrieben wird, in dem die Figuren – ganz gemäß einer Arena, wie sie Leser*innen aus Suzanne Collins „Tribute von Panem“-Trilogie kennen – gegeneinander antreten müssen, um den*die definitive*n Gewinner*in herauszufinden. Dabei werden Fragen nach der Wahrheit verhandelt, moralische Grenzen ausgelotet und so manches Geheimnis ans Licht gebracht. Und all das wohl dosiert und mit einer ordentlichen Portion Spannung.
Alexandra Hofer
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