Phantastik-Tipp im November 2024
Loewe 2024.
400 S.
Mechthild Gläser: Jane und die Geheimnisse von Branwenn Hall
Nebel, Nieselregen und vermooste Steinkreuze – als Jane im beschaulichen Örtchen Thornfield ankommt, wo sie ihren irischen Wurzeln nachspüren möchte, erwartet sie aber nicht nur typisches Inselwetter, sondern auch einiges an Überraschungen. Da ist zum einen das Cottage ihrer verstorbenen Großmutter mitten im Wald. Komplett verfallen und angeblich verwunschen warnen sie die Ansässigen davor, dem Häuschen zu nahezukommen. Dann sind da die Wasserlachen samt Seerosen, die an den seltsamsten Orten (so etwa mitten im Dorfpub) plötzlich aus dem Boden dringen. Und dann wäre da natürlich auch das Herrenhaus Branwell Hall, auf dem Jane als Au-pair arbeiten soll und wo es nicht mit rechten Dingen zuzugehen scheint. Vorerst aber widmet sich Jane der kleinen Audrey, die auf Branwell Hall mit ihrem älteren Bruder Liam lebt und deren Mädchenherz ihr bald zufliegt. Aber so sehr sich Audrey öffnet, bleibt Liam ein düsterer und tendenziell schlecht gelaunter Arbeitsgeber, der das Familiengeheimnis um die fehlenden Eltern nur langsam preisgibt.
Die Branwells weilen nämlich gar nicht auf einer Geschäftsreise, sondern sind scheinbar in das fremde Reich der Fae entschwunden, nachdem man sich mit den Elfen auf Handschlagverträge eingelassen hatte. Nun muss Liam zusehen, wie er sich allein um das Unternehmen und die kleine Schwester kümmert. Die Zwischenwelt aber bleibt allgegenwärtig und bricht mehr und mehr in Thornfield ein. Als dann auch noch der Hirschkönig den Sprung aus einem Spiegel wagt und Audrey zu entführen droht, müssen Jane und Liam Branwell gegen den alten Zauber der Fae ankämpfen. Und während in der Dorfkneipe die Seerosen-Tümpeln überhandnehmen, sich Ex-Geliebte in Krähenform zeigen und der Hirschkönig Nacht für Nacht in Branwell Hall und Audreys Träume eindringt, müssen Jane und Liam bereit sein, Altes gehen zu lassen.
Kann es aber gelingen, die Forderungen der Fae zu erfüllen und die Familie Branwell davor zu bewahren, in der anderen Welt alle Erinnerungen an ihr Zuhause zu verlieren? Oder obsiegt doch der Hirschkönig mit seinen Plänen, nicht nur die Bewohner*innen Branswells, sondern gleich das ganze Anwesen in das Reich der Fae zu ziehen?
So viel zur Erzählung, die zwischen gelungen atmosphärischen Bildern ein Irland entstehen lässt, in dem sich Sein und Schein nebeneinander reiht und aus blassen Frauenarmen mitunter schwarze Krähenflügel werden können. Dass hier aber ein großer Klassiker der Literaturgeschichte als Blaupause diente, darf auch nicht zu erwähnen vergessen werden.
Mechthild Gläser verknüpft den Brontë-Klassiker „Jane Eyre“ mit der umtriebigen Existenz des kleinen Volkes, erklärt den Brand des Herrschaftshauses auf ganz neue Weise und erzählt eine Geschichte, die mit fantastischen Requisiten nicht geizt, dabei aber unterhaltsam und spannend bleibt. Auch die Romantik zwischen Jane und Liam fügt sich nahtlos in die Erzählung, ohne tonangebend zu werden; im Mittelpunkt bleiben das Mysterium des kleinen Volkes und das Vorhaben, das alte Geschäft endlich zu seinem Abschluss zu bringen. Ein überschaubares Figurensortiment und eine nachvollziehbare Handlung machen den fantastischen Roman zu einem für mehrere Altersstufen gut lesbaren Stand-Alone, der ein wenig von allem vereint: fantastische Elemente, tradierte Mythen um das Volk der Fae, eine langsame Romanze zwischen den Protagonist*innen, Anspielungen und Fortschreibungen des Brontë-Klassikers und die Schlussfolgerung, dass Heimat und Familie unabhängig vom Ort an die relevanten Menschen gebunden sind.
Da kann dann schon einmal ein Herrschaftssitz in Flammen aufgehen.
Iris Gassenbauer
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