Aus d. Niederländ. v. Sonja Fiedler-Tresp.
Ill. v. Julia Weinmann
Gulliver 2024.
160 S.

Mel Hartman: Das schwebende Haus der Wünsche

»Wenn etwas lange im Haus liegt, wird es von selbst magisch. Eines Tages wird es dann einem anderen Kind helfen.«

Häuser haben ein Eigenleben, eine Persönlichkeit, einen ganz bestimmten Charakter. STUBE-Card-Besitzer*innen konnten in einer >>> Medienliste jüngst einiges über die Besonderheiten literarischer Häuser lesen.
Aber auch in der „realen“ Welt  ist es so: Da knarzt etwas, da flackert ein Licht, die Räume sind gefüllt mit Möbeln, Bildern und Gegenständen, die alle ihre eigene Geschichte haben, die Atmosphäre wird geschaffen aus den Menschen, die dort leben (oder gelebt haben…).

Doch jenes Haus, in dem es in diesem Kinderbuch geht, hat darüber hinaus besondere Eigenschaften, es ist ganz eindeutig magisch. Es reist mit seiner Bewohnerin, dem Mädchen Amani und ihrem Hund Guapa immer dorthin, wo ein Kind ein Problem hat.
Das Haus spricht durch das Klappern seiner Türen, es kann Essen herbeizaubern und seine Verfassung auf besondere Weise ausdrücken:

„Wie Haus sich fühlte, spiegelte sich in allem wider, was es auf magische Weise zum Vorschein brachte. Und da es jetzt traurig war, war Amanis Frühstück eklig.“

Die Traurigkeit des Hauses irritiert Amani, sie bekommt auch keine Erklärung dafür. Noch funktioniert aber der übliche Ablauf ihrer Hilfsmission: Ein Kind, das Hilfe braucht, kann das Haus sehen, tritt ein, erzählt von seinem Problem, Amani sucht, magisch vom Haus unterstützt, nach einem Gegenstand, der genau dafür gebraucht wird, dafür muss das Kind selbst etwas im Tausch zurücklassen, denn „Magie darf nicht umsonst weitergegeben werden“. Wenn sich das Kind wieder vom Haus entfernt hat, vergisst es die Begegnung wieder und kann es auch nicht mehr sehen.

Doch auch das aktuelle Kind, ein Mädchen namens Sofia, sorgt für eine Irritation. Sie stellt die einfache Frage, wie lange Amani ihren Hund schon habe, und löst damit eine Erschütterung in Amani aus, verändert damit alles. Denn Amani weiß die Antwort einfach nicht. Auf die eine Frage folgen viele weitere:

„Eine Neugier, die sie bisher nicht kannte, wuchs in ihr, wegen Haus und warum sie da war und auch wegen all der anderen Dinge. Denn an ihre Eltern konnte sie sich auch nicht erinnern. Warum nicht? Sie wusste auch nicht, wie sie hergekommen war. Das war doch komisch?“

Mit den Irritationen ist es jetzt noch nicht vorbei: Auf der Wiese vor dem Haus taucht ein höchst sonderbarer, schemenhafter Mann mit Zylinder auf, der Amani mit einem seltsamen Fernglas beobachtet. Dabei können Erwachsene das Haus eigentlich gar nicht sehen. Amani spürt eine tiefe Beunruhigung, Angst und Panik. Mehrmals kann sie vor ihm mit dem Haus fliehen, doch er taucht immer wieder auf. Was hat das zu bedeuten? Was will er von ihr?

Wer dieser unheimliche Mann tatsächlich ist, erklärt sich erst am durchaus überraschenden, aber schlüssigen Ende des Buches, das hier natürlich nicht verraten werden soll.

Diese atmosphärisch dichte Geschichte, die in einfachen, aber poetischen Worten erzählt wird, ist ein wunderbarer Einstieg für jüngere Leser*innen in die Welt der Fantasy, weil hier gleich mehrere genretyptische Motive aufgegriffen werden, ohne dass eine zu komplexe Welt erschaffen wird. So gibt es zum Beispiel das besondere, fremde und elternferne Kind unbestimmten Alters, das in erlösender Funktion in der realfiktionalen Welt agiert. Spannend ist hier, dass personal aus der Sicht dieses Kindes erzählt wird, das sich selbst – ausgelöst durch die handlungsbestimmenden Irritationen – die grundlegenden Fragen nach familiärer Herkunft und letztendlich auch nach dem Sinn seines Daseins stellt und dabei so manches Geheimnis zu lösen hat. Gefährten werden ihm bei seiner Suche bzw. Reise auch zur Seite gestellt, neben dem Haus und dem Hund in weiterer Folge auch der Bub Carlos, der seltsamerweise öfter zu Besuch kommen kann und noch eine wichtige Rolle einnehmen wird …

Tina Reiter

 

 

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