Aus d. Norweg.. v. Dagmar Lendt und Dagmar Mißfeldt
Arctis 2024.
443 S.

Siri Pettersen: Silberkehle. Vardari Teil 2

Eine Untat. Ein Wolf. Ein Krieg. (141)

diese Würfel spukt der mechanische Orakel-Rabe im Wartezimmer in Juvas Elternhaus aus, als sie ihn ­– zum Scherz – ‚befragt’. Trotz der ironischen Verzerrung nicht mit Weissagungen zu spaßen. Das hier Prophezeite wird wahr und tritt sogar gehäuft auf …

Die „Vardari”-Serie knüpft lose an Pettersens „Rabenringe”-Trilogie an. Die Autorin spielt mit Elementen nordischer Mythologie, u. a. dem Weltenbaum Yggdrasil, dessen Äste das Universum verbinden. Im Fall von Pettersens Fantasywelt sind es Steintore, durch die zwischen Welten gereist werden kann bzw. auch innerhalb einer Welt, wie es in der vorliegenden Serie der Fall ist: Die Reisesteine sind wesentlicher Teil des Handels in Juvas Welt und werden durch Wolfsblut und das Blut von Wolfskranken angetrieben. Die Handlung von „Silberkehle” setzt drei Monate nach dem Ende des ersten Bandes “Eisenwolf” ein.

Was bisher geschah: Juva ist Jägerin aus einer Blutlesefamilie, die durch diese Berufswahl vom vorgegebenen Weg abgewichen ist. Der Tod ihrer Mutter, der Gildemeisterin der Blutleserinnen, gefolgt vom Mord am gesamten inneren Zirkel der Gilde zwingt sie allerdings, in genau jene Rolle zu schlüpfen. Sie findet heraus, dass Ewigwährende durch das Blut des sogenannten Teufels erschaffen werden, genauso wie die Wolfskrankheit. Jener stellt sich schließlich als ein seit Jahrhunderten gefangen gehaltener “Mann” namens Gríf  aus einer anderen Welt heraus. Juva ist ins Zentrum von Intrigen und dem wahren Kern von Mythen ihrer Welt geraten. Die magische Anziehung zwischen den beiden ist aus vielen Gründen kompliziert. Juvas Entscheidung, zu vertrauen und zu unterstützen, endet (vermeintlich) mit Grífs Verrat, der sich in der Öffentlichkeit zeigt, bevor er durch eine ihm eigene Kraft das Tor aktiviert, das ihn die Welt verlassen lässt – nicht bevor er die Protagonistin noch mit seinen Krallen verletzt hat.

Der Handlungsort Draumheim wird in der „Rabenringe”-Serie als sprichwörtliche Hölle angesehen, stellt sich aber als ‚gewöhnliche’ von Menschen bewohnte Welt heraus. Dieses Beispiel zeigt, wie Siri Pettersen mit Erwartungen und verloren gegangenem Wissen spielt und wie geschickt sie „ihre”Welten durch Details verbindet.
Die drei Perspektiven in personaler Erzählhaltung aus dem ersten Band werden im vorliegenden Teil auf zwei reduziert: Neben Juva kommt der Ewigwährende Nafraim zu Wort, dessen Gefangenschaft bei einer Widersacherin jene von Gríf durch Nafraims Schuld spiegelt. Die Sicht von Rugen, dem nun durch die Wolfskrankheit wahnsinnig gewordenen Casanova, wird ausgespart, quasi ersetzt durch Juvas Sicht auf die Krankheit als Betroffene.
Der öffentlichen Seite von Juvas Wirken – als Wolfsjägerin im Auftrag des Stadtrats und im unfreiwilligen Austausch mit dem titelgebenden Sektenführer Silberkehle – steht das private gegenüber: Mädchen haben sich an die Protagonistin gewandt, die wie Juva selbst Ewigwährende erspüren können. Der Wunsch, sie zu schützen, drängt Juva ungewollt in eine Art von Mutterrolle, verleiht ihr aber auch Hoffnung und sorgt gelegentlich für witzige, auflockernde Momente.

Zum genussvollen Rezeptionserlebnis kann auch – zumindest für „Eisenwolf” – das Hörbuch der Hörcompany, gelesen von Konstantin Graudus, empfohlen werden, der Draumheim und seine Bewohner*innen durch äußerst abwechslungsreiche Stimmmodulationen lebendig werden lässt.

Siri Pettersen ist eine Meisterin der motivischen Spiegelungen und metaphorischen Überlagerungen. Beispielsweise ist der Wolf einerseits wörtlich präsent (im Haustier und Jagdgefährten Skar), daneben wird er als Jäger á la Rotkäppchen inszeniert, als Krankheitsauslöser gezeigt und als Metapher für das Monströse eingesetzt. 
Auch Teil-Enthüllungen sind wesentlicher Baustein im beeindruckenden Weltenbau. Weder Figuren noch Lesepublikum sind vor unvollständigen Informationen und Fehlschlüssen gefeit, sodass Spannungsbögen durchwegs aufrecht bleiben, während sich neue Verknüpfungen zwischen Figuren entspinnen und der Plot durch zahlreiche Wendungen geprägt ist.

Der Show-Down am Ende des Romans führt zurück zu Eine Untat. Ein Wolf. Ein Krieg. (141) Es gelingt der Autorin auf beeindruckende Weise, mit einem Streich zugleich Handlungsbögen zu schließen und neue zu eröffnen, indem sich zwei ehemals schlummernde Steintore öffnen und ungebetene Gäste einlassen.

Auf wie viele Bände man sich in dieser Serie noch freuen darf, ist unbekannt. Fest steht, dass auf dem zentralen Steintor ein Rabe, ein Wolf und ein Hirsch thronen –was es mit letzterem auf sich hat, ist noch völlig ungeklärt.

Die „Vardari”-Texte sind eine komplexe, mit intertextuellen Bezügen aufgeladene und spannungsreiche Serie, die Fantasykenner*innen und Leser*innen mit Vorliebe für vielschichtigen Rätsel ein Genuss sein wird.

Sonja Loidl

 

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