Phantastik-Tipp im April 2024
Aus d. Amerikan. v. Aimée de Bruyn Ouboter.
Knesebeck 2024.
316 S.
Miya T. Beck: Die Perlenjägerin
Im Fantasy-Kaiserreich Heiwadai treffen Mythen und Alltag sehr harsch aufeinander als die Zwillinge Kai und Kishi beim Perlentauchen auf einen Geisterwal treffen und Kishi ins Innere des gruseligen Walskeletts gerät. Während die Mutter zum Beten in den Tempel geht und der Vater die anderen Fischer des Dorfes mobilisiert, um das mythische Wesen zu jagen, gelingt es Kai auf eigene Faust, zu ihrer Schwester zu gelangen. Aber es ist zu spät.
Wo ein mythisches Wesen ist, sind andere meist nicht weit: Der Drachenkönig, Hüter des Geisterwals Bakekujira, kann eingreifen, bevor auch Kai bei ihrem wagemutigen Rettungsversuch stirbt. Auf das Drängen des Mädchens begeben sich die beiden zu Benzaiten, Schutzgöttin der Perlentaucherinnen. Diese bietet an, Kishi im Tausch gegen die magische Perle der Fuchskönigin Dakini wiederzubeleben. Und damit beginnt eine klassische märchenhafte Heldinnenreise, bei der magische Objekte gegeneinander eingetauscht werden und zahlreiche Hindernisse mit Unterstützung von Helfer*innenfiguren überwunden werden müssen.
An diesem kurzen Abriss der Ausgangslage des Fantasy-Romans ist bereits offenkundig, wie vielgestaltig Elemente japanische Erzähltradition Becks Text prägen: Gött*innenfiguren und phantastische Wesen der japanischer Märchen und Mythen finden Eingang in die Aufgaben für die Protagonistin. Aber auch Aberglaube (wie das Unglückbringen einer Zwillingsgeburt) bzw. das Glauben oder Nicht-Glauben an Legenden wird thematisiert – etwa als Kai vom Himmel geschossen wird, als sie mit Hilfe eines magischen Mantels aus Federn fliegt. Sie stellt sich als Tennyo, eine Himmelsfrau, vor, um ihrer Wege ziehen zu dürfen. Dieser Plan geht allerdings nach hinten los, da die Räuber entscheiden, ihr zwar nicht zu glauben, aber sie dennoch als Rarität verhökern zu wollen.
Humor spielt durchgehend eine große Rolle: So sucht die Göttin Benzaiten etwa die Teekanne für ihren Besuch in ihren Rocktaschen, während sie zahlreiche andere Gegenstände daraus hervorzieht. Und angesichts von sprechenden Ortsnamen wie dem Tal der windzerzausten Föhre oder dem Gebirge Sieben Stille Schwestern wird trocken angemerkt: Sollte eines Tages der Umsturz kommen, wie Papa es vorhersagen, würde Kai gern die Umbenennung der Orte in die Hand nehmen.
Ein mitgeliefertes Glossar bietet für Nichtkenner*innen der mythischen Wesen wie Tennyo oder Bakekujira kurze, anschauliche. Dieses Konzept ermöglicht es, ohne umfangreiche Erklärungen originale Begriffe in den Text einzuweben. Dennoch werden in Kais personaler Perspektive immer wieder Definitionen in Nebensätzen eingeflochten, die sich aber nahtlos in die Erzählung einfügen.
Als erfinderische, willensstarke und sympathische Protagonistin ist die Figur auch psychologisch-realistisch gestaltet: Trauer und Verlust – der Schwester und zuvor auch der der Tante – spielen eine wesentliche Rolle während Kais Quest. Das Thema der Wiedererweckung ist geschickt mit Interpretationsspielraum gestaltet.
Die unterschiedlichen Familiengefüge, die der Figur auf ihrer Reise begegnen, sind eine interessante Ergänzung: u. a. Ren, der als Kind als Diener an zwei Räuber übergeben wurde, der wenig wertschätzende Umgang des Generals mit seinem Sohn oder Kais eigene Familie, in der die Tante bis zu deren Tod als wichtige Bezugsperson der Nichten im Familienverband gelebt hat. Auch werden subtil unterschiedliche Frauenbilder eingewoben: Die Entscheidung der Tante unverheiratet zu bleiben, das Missfallen, das den Perlentaucherinnen als erwerbstätigen Frauen in der Dorfgemeinschaft entgegengebracht wird, die Frau des Generals, die sich gegen das Erlernen von Kampfkünsten durch Frauen ausspricht sind nur einige.
„Die Perlenjägerin” ist eine abgeschlossene phantastische Erzählung, die zahlreiche Motive japanischer Mythen und Legenden in eine eigenständige Erzählung integriert. Das Erzählen selbst, mit dem sich Kai teils die Zeit während ihrer Reise vertreibt und das auch ein wesentlicher Faktor in der Beziehung zu ihrer Tante war, ist stetig präsent und zahlreiche kleine Geschichten werden auf diese Weise in den Roman eingebettet. Am Ende des Textes, fragt man sich verwundert, wie es sein kann, dass man bereits 300 Seiten gelesen hat. Becks Roman ist eine klare Empfehlung für Fantasyfans und solche, die es noch werden wollen.
Sonja Loidl
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