Atlantis 2023.
416 S.

Diane Menschig: Die Legende vom letzten Bücherjäger

Die Leidenslaute von Büchern zu hören, die gerade verbrannt werden, ist wirklich unpraktisch, wenn man Bücherjäger ist …

Jelto kann Bücher (bzw. Leder, Papier und sogar Tinte) erschnüffeln und ist dank dieser Fähigkeit Mitglied der geheimen Gemeinschaft der Bücherjäger im Auftrag der Fürstin von Brück.
Er und seine Kolleg*innen stehlen und vernichten die letzten verbleibenden (natürlich versteckten) Werke, die auch viele Jahre nach der großen „Säuberung” noch in Haushalten zu finden sind. Die allgemeine, nun schon über Generationen gefestigte Meinung ist, dass Lesen und Schreiben gefährlich seien. Gleichzeitig wird aber auch die Sonderstellung der Stadt hinsichtlich Bücher herausgestrichen. Denn umliegenden Städten gibt es keine derartige Einschätzung über das geschriebene Wort. Bereits bevor Jelto auf das sprechende Buch namens Bùch trifft, werden in diesem Zusammenhang auch ein Mangel an kreativem Denken in der Bevölkerung und das Verlorengehen von Wissen thematisiert.
Letzteres geschieht besonders durch die Perspektive von Wyona, der Drachenzüchterin, die Jeltos Flirtversuche aufgrund seiner Einstellung zu Büchern abweist. Denn sie liebt Bücher und besitzt auch noch einige im Geheimen – vornehmlich über Drachenzucht.

Als ein eiliger Auftrag Jelto zu Bùch führt, ändert sich alles: Nach einigem Hin- und Hergerissen-Sein zwischen seiner Loyalität und Überzeugung als Bücherjäger und der Neugier auf das Unbekannte, muss er seine Meinung über Bücher und die Gefahr, die von ihren ausgeht, überdenken. Bald stellt sich sogar heraus, dass die Gemeinschaft von Buch- und Leseliebhaber*innen wesentlich größer ist als gedacht und etwa seine gesamte Familie und sogar ein früherer Jägerkollege mit von der Partie sind.

Unterschiedliche personal erzählte Perspektiven lassen das Lesepublikum das Puzzle weit schneller zusammensetzen, was man durchaus als interessante weitere Ebene der Reflexionen über das Lesen interpretieren kann.
Der Ernst von Büchervernichtung wird mit humorvollen Aspekten kontrastiert. Etwa gibt es für wirtschaftlich nötige Aufzeichnungen, wie Warenregister und Zuchtbücher, Schreibstuben mit vereidigten Schreiber*innen, deren elendslange Warteschlangen dem Szenario Komik verleihen. Auch das Buch Bùch, das Ironie nicht versteht und generell mit menschlichen Charakteristika etwas überfordert ist, sorgt für so manches Schmunzeln. Ironisch mag auch erscheinen, dass die jungen Hauptfiguren neben Wissen und Büchern auch Drachen, also feuerspeiende Tiere, zu retten versuchen und dieserart auf eine artgerechte Tierhaltung aufmerksam machen.

In niederländisch anmutendem Flair bleibt die phantastische, erzählte Welt lang hinsichtlich der Frage nach Magie in der Schwebe: Zum einen werden bestimmte pragmatische Probleme des verordneten Analphabetimus (wie das Lesen von Straßenbezeichnungen) mit einem interessanten Kniff gelöst: Sogenannte Schwatzlinge, kleine Holzfiguren, die Informationen wiedergeben können, werden an Kreuzungen oder bei Waren in Geschäften eingesetzt, um Orientierung zu ermöglichen. Nicht nur Jelto rätselt darüber, ob das magisch oder technisch funktioniert. 
Zum anderen sind Drachen, ein klassischer Teil des Figurerepertoire von Fantasy, als “abgespeckte” Version in Form von Taschendrachen (nomen est omen) präsent. Sie werden als Haustiere und Nutztiere gehalten werden. Größere Wesen dieser Art gehören zu einer Zeit vor der Säuberung, die durchaus einen mythstischen Touch erhält.

Menschigs Roman reflektiert mit Hilfe von personalen Erzählstimmen in einer phantastischen Welt die Unersetzlichkeit des Lesens für Vorstellungskraft, Innovation und Wissensvermittlung sowie die Frage nach einer Balance aus Tradition und Fortschritt.

Sonja Loidl

 

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