Aus d. Engl. v. Thomas Bodmer.
NordSüd 2023.
112 S.

Jon Klassen: Der Totenkopf 

Eines Nachts, mitten in der Nacht, während alle anderen schliefen, lief Otilla endlich weg.

Wovor das Mädchen wegläuft, wissen wir nicht. Und wohin sie läuft, wissen weder wir, noch weiß es sie. Immer tiefer zieht es sie in den verschneiten und unheimlichen Wald. Otilla! Otilla! Es klingt fast so, als würde sie jemand rufen. Oder ist es doch nur das Sausen des Windes? Endlich stoßt Otilla auf eine Lichtung mit einem großen Anwesen. "Hallo?" fragt sie, in der Hoffnung, dass ihr jemand die Tür aufmacht. Und tatsächlich kommt rasch ein Hallo zurück. Allerdings nicht von einem Menschen, sondern von einem sprechenden Totenkopf. 

Nach dem ersten Schock gewöhnt sich Otilla schnell an den ungewöhnlichen Hausbesitzer. Und der Totenkopf an sie. Denn endlich sind sie nicht mehr allein. Und ja, nach langer Zeit fühlen sich beide sogar wieder geborgen. Mit Otillas Hilfe kann sich der Totenkopf wieder durch sein Haus bewegen, Tee trinken und sogar im Ballsaal das Tanzbein schwingen. Zumindest auf eine gewisse Weise. 

Doch eine Sache gibt es da, die die neu gefundene Sicherheit stört. Denn wie Otilla erfährt, wird das Haus jede Nacht von einem bedrohlichen, kopflosen Skelett durchstöbert – auf der Suche nach dem Totenkopf. Dieser will auf keinen Fall gefunden werden. Und Otilla wird nicht zulassen, dass ihrem neuen Freund etwas zustößt. 

Inspiriert von einem Tiroler Volksmärchen erzählt Jon Klassen eine düstere wie tröstliche Geschichte zweier Figuren, die nicht weiter weglaufen wollen, sondern sich nach Geborgenheit und Sicherheit sehnen. Auch die liebevoll gestalteten Illustrationen spielen mit einem Nebeneinander von einer gruseligen und einer warmherzigen Stimmung. Das drückt sich auch in der Farbgebung aus, wenn sich in die dunkle und monochrome Gestaltung ein hoffnungsvolles Orange mischt.
Aufschlussreich ist die Nachbemerkung des Autors: Zwar basiert die Handlung auf einem alten Märchen, allerdings erzählt Jon Klassen, wie er später herausfand, die Geschichte nicht ganz originalgetreu – sondern so, wie er sie sich gemerkt hat. Und genau das ist das Schöne an Märchen und an Literatur allgemein: Jede Geschichte lässt Platz, um im Kopf seine eigene Version daraus zu machen. Und Jon Klassen gefällt seine besser als die, die er vor vielen Jahren in der Bibliothek gelesen hat. 

Uns steht es frei, ob wir das genauso sehen. Oder ob wir uns vielleicht noch eine weitere Version ausdenken. 

Alexander Pommer

 

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