dtv 2023.
288 S.

Christian Linker: Boy From Mars. Auf der Jagd nach der Wahrheit. 

Ich hatte mein Leben lang gedacht, dass Geld auf dem Mars gar keine Rolle spielt. Anders als auf der Erde, wo man angeblich sogar für Essen und Kleidung bezahlen muss, brauchte ich auf dem Mars niemals Geld für irgendetwas. Und jetzt das.

„Das“ ist die für Ich-Erzähler Jonto überraschende Ausweisung vom Mars nach dem Tod seines Großvaters Ben. Da dieser ihm kein nennenswertes Erbe hinterlassen hat, muss der Junge zu seiner Mutter Nelli ziehen, die er bisher nur als Hologramm kennt. Sie lebt knapp 55.000.000 km entfernt auf einem durch klimatische Umwälzungen und Kriege verheerten, nur noch schwach bevölkerten Planeten: der Erde.

Zur Zeit der Handlung, im Jahr 2099, befindet sich unsere Welt in einem postapokalyptischen Zustand: Weite Teile des Planeten sind überflutet, Wälder und Gletscher gibt es nicht mehr. Zwischen Meer und Steppe versuchen die Überlebenden, die Natur wieder zur Verbündeten des menschlichen Lebens zu machen und einerseits die Nahrungsversorgung, andererseits die Rückkehr der Pflanzen zu sichern. All das interessiert Jonto allerdings nicht, er will nur eines: nach Hause auf den Mars.
Dorthin, glaubt Jonto, darf er aber erst wieder, wenn er sich finanziell selbst versorgen kann – und das kann nur durch den Verkauf des „Future Boost“ gelingen, einer geheimen Wunderwaffe gegen den Klimawandel, die Ben erfunden haben will. Warum er sie nie eingesetzt oder zumindest verkauft hat, bleibt zunächst ebenso ein Rätsel wie das Versteck des Geräts. Allein kann Jonto die Tagebucheinträge seines Großvaters nicht entziffern, und seine Mutter ist zunächst keine Hilfe – sie will mit diesem vermeintlichen Hirngespinst ihres Vaters nichts zu tun haben. Ihre Sorgen gelten dem Wiederaufbau des Planeten und der Schulbildung ihres Sohnes. Dass dieser sich schließlich mit einer kleinkriminellen Jugendbande einlässt, die in versunkenen Stadtteilen nach Schätzen taucht und gegen angemessene Beteiligung bei der Suche nach der Wunderwaffe helfen will, ist Nelli zunächst gar nicht recht. Im Lauf der Geschichte wird auch sie immer mehr in die Geschichte des „Future Boost“ verwickelt und steht der Gruppe mit Rat und Tat zur Seite. Beides können die Jugendlichen gut brauchen: Bens Erfindung war nämlich nicht so geheim, wie er dachte – und Jonto und seine neuen Freund*innen sind nicht die einzigen, die daraus Profit schlagen wollen…

„Die Leute auf der Erde verstehen einfach nicht, dass man seinen Planeten gut behandeln muss“ – so fasst der Großvater das Dilemma zusammen. In Christian Linkers Future Fiction haben die Menschen es bis zuletzt nicht begriffen. Milliarden haben dafür den höchsten Preis bezahlt und ihr Leben verloren. Fruchtbares Land, Trinkwasser, Technologie – alles ist knapp. Kulturschätze liegen unter Wasser, Sand oder Ruinen begraben, auf dem Schwarzmarkt wird mit Fleisch gehandelt, das nicht, wie die meisten Lebensmittel, aus dem Automaten kommt. Die Kolonisation des Mars scheint angesichts der katastrophalen, menschengemachten Bedingungen auf der Erde die einzige Rettung zu sein – und bleibt doch ein Luxusprojekt, das sich lediglich die Reichen leisten können. Was Ben dafür opfern musste, für sich und seine Tochter einen Platz in der neuen Welt zu sichern, wird erst nach und nach aufgedeckt. Perfekt ist auch die Situation auf dem Mars nicht, die Gier der Menschen endete nicht mit einem zerstörten Planeten – sie frisst sich weiter durch die Zivilisation. Linkers Vision der Erde ist nicht zuletzt deswegen beängstigend realistisch. Dass beim Lesen trotzdem Vergnügen und sogar ein bisschen Hoffnung aufkommt, hat mehrere Gründe:
1) Gülcans Crew: Vier durch die Lebensumstände abgehärtete Teenager, die glaubhaft von Jontos Erpressern zu seinen besten Freund*innen werden. Jede*r bringt eigene Talente mit, die ohne falsche 

Bescheidenheit genutzt werden. Diese Generation hat sich von Scham und gesellschaftlichen Erwartungshaltungen gelöst, und zurecht – nichts, was sie noch tun, kann der Welt mehr schaden als das, was die Generationen vor ihnen verbrochen haben.

2) Vorteil der Postapokalpyse: Die Katastrophe ist schon da. Schlimmer wird es nicht mehr. Jonto betritt eine erschreckende Welt, die sich jeden Tag ein Stück zum Besseren wandelt. Linkers Charaktere sind angenehm frei von Selbstmitleid und Selbstvorwürfen.

3) Science Fiction: Humanoide Roboter, Kontaktlinsen, die Computer hacken können, Basketball im schwerelosen Raum – die Zukunft bietet einfach coole Gadgets, allen voran natürlich der „Future Boost“, von dem bis zum finalen Showdown niemand weiß, wie er aussieht und ob er überhaupt funktionieren kann. Linker setzt hypermoderne Technologie mit Bedacht ein, was den Roman seriös wirken lässt. Die größten Probleme werden nicht mittels Künstlicher, sondern menschlicher Intelligenz gelöst – und mit Freundschaft.

Simone Weiss

 

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