Phantastik-Tipp im Oktober 2023
Aus d. Amerikan. v. Nadine Mannchen.
Loewe 2023.
384 S.
Axie Oh: Das Mädchen, das in den Wellen verschwand
Was für ein Unterschied es doch ist, an Legenden zu glauben und eine am eigenen Leib zu erleben.
Mina ist 16 als sie sich spontan entschließt, das Leben der großen Liebe ihres Bruders zu retten: An deren Stelle springt sie in die Fluten, um die Braut des Meeresgottes zu werden, damit die verheerenden Stürme ein Ende haben. Seit der Kaiser vor 100 Jahren auf einer Klippe unweit von Minas Dorf getötet und der Meeresgott dadurch verstimmt wurde, ist dieses Ritual Tradition. Bislang hat es aber keine Braut geschafft, den Herrn des Meeres zu motivieren, die Unwetter für immer zu beenden.
In die Tiefen des Meeres geleitet von einem mächtigen Drachen, dem Seelentier des Meeresgottes, wird sie direkt nach ihrer Ankunft durch einen roten Schicksalsfaden am Handgelenk zu ihrem Bräutigam geführt. Dieser sitzt schlafend in Gestalt eines Jungen auf seinem Thron. Die drei Gestakten, die den Faden gewaltsam durchtrennen und so ihre Seele (in Gestalt einer Elster) einfangen, sind die erste Begegnung Minas mit Bewohner*innen der Stadt der Toten. In 30 Tagen wird Mina ihre Seele zurückgegeben haben – denn Lebende werden ohnehin nach dieser Zeit im Reich der Geister selbst zu einem. So beginnt ein doppelter Countdown: Die Protagonistin hat einen Monat, um ihre Seele zu retten und ihr Volk vor weiterem Unheil zu bewahren.
Die Ich-Erzählerin findet sich vorerst orientierungslos als Lebende in jener Totenstadt, über deren Sitten und Bräuche sie durch die Mythen ihres Volkes aber schon einiges weiß. Diese Welt wird von einem unsicheren Frieden zwischen regierenden Häuser geprägt, deren Oberhäupter Geister, Dämonen oder sogar Götter sind.
Bald scheint das Schicksal Mina nicht mehr an den Meeresgott, sondern an Shin, den Herrn des Hauses Lotus und Dieb ihrer Seele, zu knüpfen. Diesen und den Meeresgott verbindet ein Gedächtnisverlust, den Mina aufzuheben versucht. Dabei verliebt sie sich langsam aber sicher; zwei zentrale überraschende Wendungen zu Liebesgeschichte und Minas Familie sind dezent, aber solide über die Erzählung hinweg vorbereitet.
Die Erlösungsfunktion einer geopferten Braut, von der an der Oberfläche eigentlich niemand weiß, ob sie ertrinkt, erschüttert die Ich-Erzählerin schwer und geht mit Kritik an der Untätigkeit der Instanz des Meeresgottes einher, von der Schutz erwartet wird. Der Status „Gottheit” wird von Mina mit mehreren Figuren diskutiert: Gibt es eine beidseitige Verantwortung zwischen Gött*innen und Menschen?
Als starke, erfinderische und sympathische Protagonistin ist die Figur auch psychologisch-realistisch gestaltet: Zuallererst sitzt sie verzweifelt in einer Gasse.
Aus dieser Verzweiflung wird sie von einem ungewöhnlichen Trio geholt, das zugleich den Gegenpol zu den Seelendieben darstellt: Mask verbirgt sich hinter einer Maske mit Großmuttergesicht, die die Züge wechseln kann, Dai versorgt das Mädchen mit Essen und Miki, die als Baby gestorben ist, heitert Mina mit ihrem Grübchenlächeln sofort auf. Nicht nur auf diesem Weg findet Humor immer wieder Eingang in den Text.
Die Welt der Geister ähnelt der Welt der Lebenden in sozialen Konventionen und Gesellschaftsstruktur als eine Art vollwertiges Leben danach. Axie Oh präsentiert diese atmosphärisch, indem neben Farbenpracht, Gerüchen, Kulinarik, Architektur und Gärten auch die oft außergewöhnliche Raumgestaltung beschrieben wird.
Der Roman ist durchgehend von Motivübernahmen und Anspielungen aus koreanischer Erzähltradition bestimmt, etwa die Grundstruktur der Erzählung, der Aufbau der Totenwelt, ein Drache und seine Perle, Dämonenwesen und die Vielzahl kleiner Gottheiten. Dabei nimmt auch das Erzählen selbst einen zentralen Stellenwert als Motiv ein: Geschichten von Minas Großmutter und solche, die Mina selbst erzählt, sind bedeutungstragend. Ihre Charakterisierung als Erzählerin spiegelt sich auch darin, dass der vorübergehende Verlust ihrer Seele dem Mädchen die Stimme raubt. Dieses Beispiel verweist auf die Universalität von Motiven in Überlieferungen, ist es doch im europäischen Raum u. a. durch Hans Christian Anders „Die kleine Seejungfrau” bekannt.
„Das Mädchen, das in den Wellen verschwand” ist eine abgeschlossene phantastische Erzählung, die stimmungsvoll in eine asiatisch anmutende Anderswelt entführt. Sich mit Mina auf die Reise in die Stadt des Meeresgottes zu begeben, kann wärmstens empfohlen werden.
Sonja Loidl
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