Phantastik-Tipp im Sommer 2023
Aus d. Engl. v. Heide Franck und Alexandra Jordan.
Eichborn 2023.
736 S.
R. F. Kuang: Babel
Es ist das Jahr 1828, die Cholera wütet in Kanton, und der durch die Seuche verwaiste Robin Swift wird vom mysteriösen Dr. Lovell mit nach London genommen. Dort soll er unterrichtet werden: Altgriechisch, Latein, Chinesisch. Mit dem einzigen Ziel in das Königliche Institut für Übersetzung der Universität Oxfort aufgenommen zu werden – Babel. Der mysteriöse Turm steht inmitten der Stadt; dort sind es die Übersetzer*innen, die mit ihren Sprachkenntnissen dafür sorgen, dass das britische Imperium immer weiter an Stärke gewinnt. Durch die Kunst des Silberwerkens, bei welcher sich die verloren gegangene Bedeutung der Übersetzungen in den magischen Silberbarren manifestiert, wird Babel zum industriellen Zentrum des Empires und England zur Weltmacht. Und zunächst erscheint das neue Leben für den jungen Robin auch wie eine wahrgewordene Utopie. Gemeinsam mit seinen Freund*innen Remy, Letty und Victoire wird er in die prestigeträchtige Welt der Reichen eingeführt. Aus ihren Heimatländern gerissen schließen sie sich in Babel zusammen und sind von Anfang an unzertrennlich. Doch schon bald bröckelt die Fassade – Rassismus und Sexismus treffen die Freund*innen in jedem Lebensabschnitt; ihre Privilegien ein reines, äußerst fragiles Trugbild. Als Robin von seinem Halbbruder Griffin in die Geheimorganisation Hermes eingeschleust wird, mit dem Ziel das Machtzentrum aus dem Inneren heraus zu zerstören, beginnt er seine Werte zu hinterfragen: Lohnt es sich für seinen geschützten Alltag seine Ideale zu verwerfen? Und was bedeutet die Unterstützung der britischen Macht für die weniger Privilegierten? Als England schließlich einen hinterhältigen Krieg mit China im Kampf um Opium und Silber anzettelt, müssen sich die Vier entscheiden: Unterstützen sie Babel, und stellen sich damit auf die Seite der Unterdrücker, oder schließen sie sich Hermes an, mit der Mission das Imperium zu stürzen?
Rebecca F. Kuang verarbeitet sensibel die heute immer noch sehr aktuelle Frage, inwiefern Gewalt für einen gesellschaftlichen Umbruch nötig ist, und wo hier die individuellen Grenzen stehen können. Verwoben mit ihrem tiefgreifenden Wissen in den Sprachwissenschaften und Literatur, schafft es die Autorin sorgfältig und akribisch genau ihre Forschung in das Narrativ einzubauen. Dabei entsteht trotz der Wissenschaftlichkeit ein fließender und spannender Text mit komplexen Charakteren. Ein wenig wünscht man sich zwar, die Beziehungen der Figuren hätte etwas mehr Raum bekommen, dafür wird jedoch die brutale Realität der Eroberungspolitik der Kolonialmacht facettenreich und eindrücklich gezeichnet. Kuang verknüpft hier klug das beliebte Genre des Dark Academia mit der in der Allgemeinliteratur immer noch vernachlässigten Epoche des britischen Imperiums, und kreiert so eine Leseerfahrung, die gleichzeitig informiert als auch unterhält. Robin Swift und seine Freund*innen verkörpern eine selbst heute noch zeitgerechte Erfahrung von Unterdrückung aufgrund von Rassismus sowie Sexismus, und sind in ihrer Zeichnung nahbar und komplex – ihre Sprachkenntnisse eine Besonderheit, die ihnen einen Platz in den höheren Rängen des britischen Imperiums grundsätzlich zugesteht, sie jedoch weiterhin abhängig macht. Die magische Seite des Narratives steht zwar eher im Hintergrund, so wird hier doch durch die Kraft des Silberwerkens die Machtgier des Empires unterstrichen, und der Bezug zur Realität nie verloren.
Ein wichtiger Roman, der einen noch wichtigeren Teil der Kolonialgeschichte Europas in den Fokus nimmt und auf kluge Weise zeitgemäße Themen wie Zugehörigkeit, Identität, Sprache und Rassismus behandelt.
Frieda Weixlbaumer
Die gesammelten Phantastik-Tipps der letzten Monate und Jahre finden Sie im >>> Phantastik-Archiv