Phantastik-Tipp im Juni 2023
Aus d. Engl. v. Hanna Christine Fliedner.
Arctis 2023.
368 S.
Adam Silvera: Infinity Son. Wer wird ewig leben und wer wird beim Versuch sterben?
Aus großer Kraft folgt große Verantwortung gilt nicht nur für Spiderman.
Adam Silveras Fantasywelt ist der Realität sehr ähnlich (inkl. medialer Einschreibungen wie YouTube); allerdings haben eine Vielzahl an Erdenbewohner*innen, die sogenannten Celestials, besondere Fähigkeiten, die man am besten mit Superheld*innen vergleicht – etwa Körperkraft, Geschwindigkeit, Kontrolle über Wind oder anderes. Es handelt sich um vererbte Besonderheiten, deren Ursprung unklar ist, aber mit den Sternen verbunden zu sein scheint.
Zu Beginn der Erzählung zeigt sich das Sternbild des Crowned Dreamer am Himmel, das die Kräfte von Celestials verstärkt und für viele Menschen ohne Fähigkeiten die Hoffnung weckt, dass Kräfte ihrer Vorfahren in ihnen erwachen könnten.
So auch Brighton, Zwillingsbruder von Emil, ein begeisterter Filmer und Blogger mit Fokus auf berühmte Celestials, den Spellwalkern. Anders als sein Bruder hat er sich den Kindheitstraum von Superkräften bewahrt – und wenn er die schon nicht erlangen kann, dann eben Berühmtheit über seine Profile in den sozialen Medien.
Emil ist der bodenständige Zwilling, der im Naturkundemuseum vom Shopmitarbeiter befördert und in die Abteilung über Phönixe versetzt werden möchte.
So unterschiedlich die Zwillinge auch sind; ihren 18. Geburtstag erwarten sie dennoch beide mit Spannung. Aber es passiert nichts.
Bald darauf geraten die Geschwister allerdings in Streit mit zwei Verkäufern von Tränken, die kurzzeitig Kräfte simulieren und es bricht eine Schlägerei aus, die rasch lebensgefährlich wird. Und damit erwachen Emils Kräfte: Das Feuer eines Phönix wird alles im Leben der Hauptfiguren auf den Kopf stellen.
Es erfolgt ein auf beiden Seiten unfreiwilliger Rollentausch zwischen den Brüdern dahingehend, wer wessen ‚Kameramann’ (wörtlich und im übertragenen Sinn) ist.
Nun ist Phönixfeuer aber keine klassische Kraft der Celestials: Einige Jahrzehnte vor der erzählten Zeit ist es Alchemisten gelungen, durch das Blut phantastischer Tiere, die in dieser Welt üblicher Bestandteil der Fauna sind, Menschen mit Kräften auszustatten: etwa die Regenerationsmöglichkeiten einer Hydra, oder das Feuer eines Phönix.
Dass die Tiere dafür getötet werden müssen, hat für das Ökosystem auf Dauer durchaus schädliche Konsequenzen. Aber auch Nebenwirkungen und Risiko für die ‚Specter’, die Menschen, die den Prozess durchmachen, sind erheblich und der Machtmissbrauch ist ein zentrales Thema des ersten Bandes der Trilogie. Zudem durchzieht eine ‚Hexenjagd‘ auf Celestials (v. a. in der Folge eines Massakers an Zivilist*innen, an dem vorgeblich Spellwalker beteiligt waren) den Roman. Angst vor der Polizeitaskforce, die rein auf übernatürliche Kräfte spezialisiert ist, und in den Beschreibungen an real-fiktionale Verhaftungen schwarzer Personen erinnert, ist immer wieder Thema, wodurch – wenn auch nur am Rand – gesellschaftskritische Elemente Einzug in die Narration finden.
Die junge Generation der Spellwalker, Kinder der im Massaker gestorbenen, holt Emil zu sich, als ein Video des Kampfes mit den Tränkedealern sich wie Lauffeuer verbreitet. Es ist eine interessante Mischung zwischen Recruiting und Schutzmassnahme, um ihn von der Alchemistin Luna fernzuhalten. Sie verkörpert die gegnerische Front mit dem Ziel, auf Kosten phantastischer Wesen stabile Kräfte auf Menschen zu übertragen und – im Fall des Phönix – Wiedergeburt möglich zu machen. Dass das bereits gelungen ist, ist ein spannender Wendepunkt der Erzählung, der hier nicht gespoilert werden soll.
Freund*innen von Superheld*innenerzählungen kommen bei „Infinity Son” auf jeden Fall auf ihre Kosten. Dass das aktuelle Versteck der „Guten" eine Schule ist, ist einer der zahlreichen intermedialen Winks in Richtung der X-Men und anderer Werke aus diesem Genre. Auch Harry Potter darf als Teil im Verweisnetzwerk nicht fehlen: Gängige Motive wie Tod von Eltern(teilen), korrupte Politiker, Wissenschaftler*innen auf einem Egotrip und Bösewichte, die Weltdominanz und/oder Unsterblichkeit anstreben, sind selbstverständliche Bestandteile beim Entspinnen der Handlung.
Übliche zentrale Fragen, wie Was bedeutet Heldenhaftigkeit? oder Welche Rechte bzw. Pflichten gehen mit besonderen Fähigkeiten einher? werden vom Autor durch unterschiedliche Blickwinkel verhandelt: Es dominieren Emils und Brightons Ich-Perspektiven, die vereinzelt durch andere ergänzt werden, wie die des Formwandlers Ness, durch den man einen Blick ins ‚gegnerische Lager’ Lunas werfen kann.
Brightons Geltungsdrang stellt das Lesepublikum gelegentlich vor eine Geduldsprobe, ist aber für den Knall am Textende zentral.
Einige Antagonisten wirken eindimensional, aber man kann damit rechnen, dass mit der Erweiterung der Welt im Verlauf der Serie hier einige Lücken gefüllt werden. Denn bereits der erste Band nutzt zum Spannungsaufbau das Enthüllen biografischer Geheimnisse mehrerer Hauptfiguren.
Eine literarische Superheld*innenerzählung Parallel zum anhaltenden Trend von Superhelden-Filmen und -Serien muss etwa ohne bildgewaltige Kämpfe der Kräfte auskommen, die zur Erwartungshaltung gehören. Adam Silvera ist dabei erfolgreich. In wenigen zentralen Kampfszenen wird durch die Begrenzung der Figurenperspektive Raum für Vorstellungskraft und spätere Enthüllungen durch andere Figuren eingeräumt, wenn etwa die Brüder einander im Getümmel verlieren.
Ein interessanter Serienauftakt in einer Fantasywelt, die Superkräfte, magische Wesen und Geister effektiv verbindet und die Nutzung sozialer Medien zur Image- und Meinungsbildung gleichwertig ins Zentrum stellt. Das Austarieren typischer Elemente und deren Variation legt die Basis für eine gelungene Serie, deren zweiter Teil im Herbst erscheinen wird.
Sonja Loidl
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