Phantastik-Tipp im April 2023
Aus d. Engl. v. Birgit Schmitz.
Carlsen 2023.
Elisabeth Lim: Der Schwur des Drachen
Shiori hat magische Kräfte, die im Reich Kiata eigentlich nicht existieren sollten. Als die 16jährige Tochter des Kaisers feststellt, dass das auch auf ihre Stiefmutter zutrifft, verhängt diese einen Fluch über sie und ihre Geschwister: Jeder Laut, den Shiori von sich gibt, wird einen ihrer Brüder töten, die tagsüber zu Kranichen werden. Schon durch diese Ausgangslage taucht man in ein Gewebe aus Bezügen zu Märchen aus unterschiedlichen Kulturkreisen ein.
Den erste Band, “Die sechs Kraniche”, dominiert vorerst Shioris Suche nach den Brüdern, den Plan zur Brechung des Fluchs, den die Familie später gemeinsam fasst und schließlich Shioris Quest nach dem wahren Namen der Stiefmutter, der ebenfalls nötig ist. Auch dazu gehört ein Netz aus Sternenkraut, das an die Hemden aus Brennnesseln erinnert, die Elisa in Hans Christian Andersens “Die wilden Schwäne” für die Rückverwandlung ihrer Geschwister herstellt. Dies ist nur eines zahlreicher Beispiele für das Einweben bekannter Märchenelemente in Lims Erzählung.
Shioris Reise beschreibt einen der Handlungsstränge. Mit einer Schale auf dem Kopf, die Erkennen verhindert, kocht die Protagonistin Suppe in einem Gasthaus und lernt dabei ihren Verlobten kennen, der auf der Suche nach ihr ist. Nachdem die Brüder gefunden sind, schmieden die Geschwister gemeinsam Pläne, unterstützt von den Informationen eines Magiers, den sie besser im Auge hätten behalten sollen. Als die Geschwister sich trennen, um zu besorgen, was nötig ist, landet Shiori als Dienstmagd am Hof ihres Verlobten - der sie an ihrer Suppe erkennt. Neben der Quest gibt es Rätsel an eben jenem Hof zu lösen und mit Hilfe des Drachen Seryu (titelgebendner Drache für Band 2) lernt das Mädchen parallel, ihre Magie einzusetzen. Daneben wird die Hintergrundgeschichte der Stiefmutter eingeflochten und Shioris Erinnerungen an bessere Zeiten vertiefen die Charakterisierung der Figur, ihrer Familie und der Fantasywelt.
Humor steckt in den Dialogen und wird zu großen Teilen von Kiki, dem von Shiori zum Leben erweckten Papierkranich, getragen, sowie in Band 1 auch von Seryus ironischen Bemerkungen, z.B. über menschliches Verhalten.
Handlungselemente wie die magische Perle, die Shiori von ihrer Stiefmutter letztendlich überantwortet wird, der vergebliche Versuch von Dämonen sich aus dem Heiligen Berg zu befreien, Shioris Blut als Schlüssel zu eben jenem magischen Verlies und Seryus Stellung als Drachenprinz leiten die Erzählung in den zweiten Band über.
Wieder werden - von Beginn an - neue Regionen der Fantasywelt erkundet; etwa das Unterwasserreich der Drachen, das als intrigengezeichneter und fremdartiger und intrigengezeichneter Raum atmosphärisch und spannend dargestellt wird.
Nicht nur dort, sondern auch in anderen Gefilden versucht man, sich gegenseitig auszutricken: Das Auf und Ab von Fragen und Enthüllungen hält Spannung durch die gesamte Serie aufrecht.
Ein metaphorischer wie wörtlich umgesetzter roter Faden verbindet Shiori und ihren Geliebten Takkan, steht aber auch für familiäre Liebe wie die zwischen der Protagonistin und ihrer Stiefmutter. Das Bild einer Seele aus/mit Fäden, wie es u.a. die griechische Mythologie in den drei Moiren kennt, wird interessant adaptiert, wenn sich etwa herausstellt, dass Kiki durch einen Seelenfaden Shioris animiert wird: Wer gibt, wird bekommen ist ein für den Text wichtiger Leitgedanke, der Lims Duologie genauso prägt wie die die Suche nach Balance - innerhalb der Familie, in Liebesbeziehungen, zwischen den Interessen des*r Einzelnen und der Gruppe, zwischen Gut und Böse. Bezüglich des letzten Punktes darf verraten werden, dass beide Bände einen "Showdown" mit Dämonen aufweisen.
Mit “Der Schwur des Drachen” ist die Serie abgeschlossen. Das Ende ist geprägt durch Selbstaufopferung, wie es phantastische Texte oft sind, aber auch (viel) Hoffnung und fügt Anspielungen auf literarische Märchen mit Märchen innerhalb der Fantasywelt zusammen. Die Reise an diesen Punkt lohnt sich: Für Shiori und das Lesepublikum.
Sonja Loidl
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