Phantastik-Tipp im März 2023
cbt 2013-2017.
Jonathan Stroud: Lockwood&Co. 5 Bände
“Die Vorschrift lautet, dass jedes Mitglied der Agentur sich immer nur einen Keks auf einmal nimmt. Es geht streng reihum. Ohne Ausnahme. Auch dann nicht, wenn jemand gerade unter Stress steht.” (Die seufzende Wendeltreppe, 100)
Jugendliche Agenten jagen Geister – aber bitte nur gut verpflegt. Die „Keksregel” mit dem Flair englischer Teezeit steht am Ende des erfolgreichen Bewerbungsgesprächs von Ich-Erzählerin Lucy Carlyle bei der 3-Personen-Agentur Lockwood&Co. und markiert ihre Aufnahme in die kleine Gemeinschaft.
Fortan wird sie gemeinsam mit Anthony Lockwood und George Cubbins Geister bannen. Liest man, wie das Trio zusammengefunden hat, befindet man sich bereits mitten in der Geschichte. Denn Jonathan Stroud stößt das Lesepublikum ohne Umschweife in das heimgesuchte London, in dem Geister zur alltäglichen Plage geworden sind, quasi nach dem Motto zuerst handeln, dann fragen.
Dies scheint auch Lockwoods Lebensmotto, der listenreich und clever durchs Leben geht, aber als stolzer Namensgeber seiner Agentur auch stark zu riskanten, selbst- und fremd- gefährdenden Aktionen neigt. George ist als Gegenteil angelegt, der die Recherchen zu den geistergeplagten Anwesen übernimmt mit deren Sicherung das Team von zahlender Kundschaft betraut wird. Mit Recht, wenn auch durchaus ironisch lesbar, echauffiert sich die Figur immer wieder darüber, dass Lockwood keine Zeit für gute Vorbereitung einräumt. Lucy muss sich in die bereits länger bestehende Zusammenarbeit einfinden. Sie hat ein ungewöhnlich starkes Talent zum Hören der Geister, das sich im Verlauf der Bände weit über das übliche Maß hinaus entwickelt und so zu einem Schlüsselelement der Erzählung wird. So wird der Schädel (titelgebend für Band 2 „Lockwood&Co. – Der Wispernde Schäde“l) häufiger „Gesprächspartner” mit augenzwinkerndem Verweis auf Hamlet und Sherlock Holmes. Dieser liefert neben Komik auch wertvolle Einsichten, wechselt aber ambivalent mehrfach zwischen Helferfigur und Antagonist.
Dass Lucy en passant mitgeteilt wird, dass ihr Vorgänger im Einsatz gestorben ist, überrascht die Figur nicht und charakterisiert ganz nebenbei die Lebensumstände der 15jährigen Protagonist*innen im London von Strouds Anderswelt: Gefährliche Aufgaben sind für jugendliche Sensible, die Geister entweder besonders gut hören oder sehen können, an der Tagesordnung. Aber auch in einer Welt von Ausgangssperre nach Einbruch der Dunkelheit, Eisen vor Fenstern und Geisterlampen auf den Straßen gerät das Trio in jedem Band der Serie mehrfach in außergewöhnliche Schwierigkeiten. Anders als die Corona-Lockdowns ist allerdings kein Ende in Sicht und die Sensibilität zahlreicher Jugendlicher hat zu den gerade skizzierten und weiteren gesellschaftlichen Umbrüchen geführt. Dass angesichts des „Problems”, wie die lebensbestimmende Geisterepedemie euphemistisch genannt wird, Kinder und Jugendliche in systemrelevanten Jobs unter großen Gefahren in eine erwachsene Lebenswelt gedrängt werden wird immer wieder kritisch thematisiert: Eltern beuten ihre verdienenden Kinder aus, Trauma und Tod sind vor Ende der Schulzeit stets präsent und erwachsene Mitglieder von Agenturen treffen die wesentlichen Entscheidungen, obwohl sie Geister längst nicht mehr wahrnehmen können. Dass Lockwood&Co die einzige Agentur in London ohne Erwachsene ist, sorgt für größeren Handlungsspielraum, aber auch vielfache Schwierigkeiten für Lucy, George und Lockwood.
Lucy streut als erzählendes Ich immer wieder vorausdeutende Kommentare ein, die darauf hinweisen, dass zumindest sie das Erwachsenenalter erreicht. Das tut der Spannung in Strouds vielschichtig aufgebauten Texten aber keinen Abbruch.
Während die Streaming-Adaption, die seit 27.1.2023 auf Netflix zu sehen ist, von Anfang an Hinweise streut, dass das Problem nicht zufällig aufgetreten ist, wird dieses Rätsel im Verlauf der 5 Bände langsam aufgebaut und ist der übergeordnete Handlungsbogen in der progressiv erzählten Serie. Gekonnt werden die Fälle der Agentur, die (fast) immer auch Hinweise zum großen Puzzle liefern, mit den Biografien der Figuren verknüpft. Über Lucy weiß man durch ihre Rolle als Ich-Erzählerin rasch einiges, lernt aber vor allem Lockwood erst langsam kennen. Die Dynamik des Teams, zwischen dessen Mitgliedern es durchaus auch „knistert”, macht einen wesentlichen Reiz der Serie aus. Kleine Eifersüchtelein und Streits auf der einen Seite, Loyalität, Sorge und gegenseitige Aufopferung sind Teil der komplexen Figurenaufbaus. Dass die romantische Beziehung erst sehr spät explizit deklariert wird, hält Spannung aufrecht und hebt die Serie von zahlreichen anderen ab. Im Verlauf der Serie das Team durch ein weiteres weibliches Mitglied zu ergänzen sorgt für Abwechslung und neue Dynamiken.
Lockwood&Co ist Seriengenuss mit unverkennbar englischem Flair: Man trinkt (sehr viel) Tee, dem große gemeinschaftsstiftende Bedeutung beigemessen wird, trifft auf britische Architektur und Inneneinrichtung und durchstreift das „geisterhaft” verfremdete London mit Stationen an vielen bekannten Orten.
Sonja Loidl
Serie bestehend aus:
Jonathan Stroud: Lockwood & Co. – Die Seufzende Wendeltreppe. A. d. Engl. v. Katharina Orgaß und Gerald Jung. München: cbt 2023 (Erstausgabe 2013)
Jonathan Stroud: Lockwood & Co. – Der Wispernde Schädel. A. d. Engl. v. Katharina Orgaß und Gerald Jung. München: cbt 2014.
Jonathan Stroud: Lockwood & Co. – Die Raunende Maske, A. d. Engl. v. Katharina Orgaß und Gerald Jung. München: cbt 2015.
Jonathan Stroud: Lockwood & Co. – Das Flammende Phantom. A. d. Engl. v. Katharina Orgaß und Gerald Jung. München: cbt 2016.
Jonathan Stroud: Lockwood & Co. – Das Grauenvolle Grab, A. d. Engl. v. Katharina Orgaß und Gerald Jung. München: cbt 2017.
Kurzgeschichte, handlungschronologisch in der ersten Hälfte der Serie verortet:
Jonathan Stroud: Lockwood & Co. – Der verfluchte Dolch. München: cbj 2019.
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