MINT-Bücher im November 2023

Carlsen 2023.
80 S.
Susan Schädlich, Michael Stang und Bea Davies: Mensch!
Auch wenn es nicht jede*r gerne zugibt: Viele von uns sind mit der evolutionären Geschichte der Menschheit nicht unbedingt vertraut. Das ist auch durchaus verständlich, lassen sich Entwicklungen über Zeiträume von mehreren Millionen Jahren doch kaum überblicken, geschweige denn fein säuberlich katalogisieren und verstehen. So halten sich manche Mythen um unsere Vorfahr*innen und Artgeschichte nach wie vor hartnäckig. Der Mensch stammt vom Affen ab. Neandertaler waren weniger intelligent als der Homo Sapiens und sind deshalb ausgestorben. Unterschiedliche menschliche Arten haben getrennt voneinander existiert und entsprechend haben wir (als Homo Sapiens) genetisch gesehen alle dieselben Vorfahr*innen. Kommt Ihnen eine dieser Aussagen bekannt vor? Wissenschaftlich gesehen ist keine davon richtig. Und um ein für alle Mal mit solchem Halbwissen aufzuräumen, haben sich die Autor*innen Susan Schädlich und Michael Stang mit der Illustratorin Bea Davies zusammengetan. Entstanden ist ein Genrehybrid, der Comic und Sachbuch miteinander verbindet und dabei auf denkbar unterhaltsame Weise einen Überblick über die Geschichte der Menschheit gibt. Lohnenswert ist die Lektüre übrigens keineswegs nur für Kinder und Jugendliche – auch die meisten Erwachsenen werden sich viel neues, spannendes oder zumindest vertiefendes Wissen mitnehmen können.
Sinnbildhaft erwarten die Leser*innen schon am Vorsatzpapier einzelne Gesichter und Bilder auf Puzzleteilen. Miteinander verbunden, aber keineswegs lückenlos, zwischendurch sogar mit großen weißen Flecken. Die Erforschung der Menschheit baut auf vergleichsweise wenigen Funden auf, was es notwendig macht, Querverbindungen herzustellen und Lücken mitunter provisorisch zu schließen. Entlang einiger dieser exemplarischen Funde nähert sich der Text von einem Ausgangspunkt vor 7 Millionen Jahren nach und nach der Gegenwart an und erklärt sozusagen nebenbei wissenschaftliche Verfahren aus der Praxis. Begleitet werden die kreativ und klug gestalteten Sachbuchseiten zu Funden wie dem Australopithecus afarensis-Teilskelett „Lucy“ oder der „X-Woman“, die zu den Denisova-Menschen gehörte, von einer Rahmenerzählung in der Gegenwart. Darin nimmt die Hauptfigur Tali eine großmütterliche Aussage (den Wunsch nach einem Geburtstagsfest mit der ganzen Großfamilie) etwas zu wörtlich – und begibt sich mithilfe des handlichen Supercomputers Xyzo auf eine Zeitreise, entlang derer Vertreter*innen unterschiedlicher menschlicher Vorfahr*innen eingesammelt werden, um am Ende gemeinsam zu feiern. Talis Reise lockert nicht nur die Sachbuchseiten mit dynamischen Comic-Passagen auf, sondern hilft mittels der kindlichen Identifikationsfigur auch dabei, einen persönlichen und nahbaren Zugang zu lange vergangenen Zeiten und komplexen wissenschaftlichen Themen zu finden.
LESEN – SPRECHEN – TUN
LESEN – Von Leser*innen ab 10 Jahren lässt sich dieses Sachbuch schon hervorragend alleine durchschmökern. Obwohl komplexe Zusammenhänge wissenschaftlich fundiert aufgearbeitet werden, schaffen die Autor*innen es immer, Sachinformationen überblickbar zu dosieren und ihre Leser*innen Schritt für Schritt an Themen heranzuführen – ganz ohne Langeweile oder Überforderung. Neben seinem Sachtext-Charakter macht „Mensch!“ die Lesenden außerdem mit verschiedenen Techniken der Informationsvermittlung und des Erzählens, etwa diskontinuierlichen Texten oder dem Comic, vertraut.
SPRECHEN – Wo so umfangreiche Themenkomplexe wie die Evolutionsgeschichte des Menschen behandelt werden, überschneiden und ergänzen sich die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen (wie etwa die Archäologie, die Biologie, die Geschichtswissenschaft und viele weitere). In der Anschlusskommunikation ergeben sich daraus verschiedene Potenziale; je nach Kontext und Zielgruppe kann der Fokus beispielsweise auf die evolutionäre Entwicklung einer bestimmten Art, auf die Funktionsweisen wissenschaftlicher Analyseverfahren, das Lesen von Infografiken oder das Erzählen in Bildern gelegt werden.
TUN – Zugegeben: Für selbst initiierte archäologische Forschung oder die genetische Analyse des eigenen Erbmaterials wird es wahrscheinlich den meisten Leser*innen an Ressourcen und Nerven mangeln. Wer sich trotzdem auch außerhalb der Buchseiten vertiefend mit der Geschichte des Homo Sapiens und seiner Verwandten auseinandersetzen möchte, kann stattdessen auf den guten alten Museumsbesuch ausweichen. Ob einzelne Artefakte in naturhistorischen Sammlungen oder Freilichtmuseen von Neandertal bis Pfahlbautensiedlung – (fast) überall in Mitteleuropa gibt es auch im näheren Umfeld vieles zu entdecken.
Sarah Auer
Wer nicht nur über die Evolution, sondern ganz allgemein im Sachbuch staunen möchte, kann das hervorragend mithilfe des fokus-Skript "Über das Staunen. Eine Poetik der Fakten in kinder- und jugendliterarischen Sachbüchern" von Julia Lückl.
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