Aus d. Poln. v. Marlena Breuer.
Hanser 2023.
80 S.

Ola Woldańska-Płocińska: Das große Buch vom Essen. Alles, was du über krumme Karotten, Beeren mit Superkräften und leckeres Unkraut wissen musst

Um richtig zu funktionieren, braucht unser Körper wichtige Nährstoffe, die er über Nahrung aufnimmt. Trotzdem ist Essen keineswegs eine rein zweckrationale Entscheidung, ganz im Gegenteil. Viele historische Entwicklungen sind sozusagen in unserer Art zu essen fossilisiert, sie transportiert kulturelle und soziale Unterschiede genauso wie etwa bewusste Entscheidungen für die eigenen Werte oder Gastfreundschaft. Und: Beim Essen kommen die Leute zusammen.

Die polnische Autorin und Illustratorin Ola Woldańska-Płocińska hat sich in diesem Sachbuch für junge Leser*innen der vielschichtigen Bedeutungen des Essens im mitteleuropäischen Raum angenommen und nähert sich ihnen mit einem kulturgeschichtlichen ebenso wie kulturkritischen Blick. So schlüsselt sie etwa auf, wieso wir uns als Allesfresser*innen eigentlich so sehr auf Fleisch als Nahrungsquelle verlassen – wo die Jagd einmal überlebenswichtig war und die Verteilung des erlegten Wilds auch soziale Bedeutung hatte, könnten wir heute ohne Probleme auf eine pflanzenbasierte und damit ressourcenschonendere Ernährung umstellen. In dieselbe Kerbe schlagend widmet sie sich beispielsweise der ungleichen Nahrungsverteilung auf globaler Ebene oder den Folgen unreflektierter Überproduktion. Dem Buch ist damit eine sozialpolitisch bewusste Ebene immanent, die zum Umdenken auffordern möchte und so an frühere Texte der Autorin wie „Tiere haben Rechte“ oder „Schütze die Natur“ (beide Beltz & Gelberg 2020) anschließt.

Je eine Doppelseite versammelt die wichtigsten Informationen zu einem Thema in einem zugänglichen Fließtext mit direkter Du-Ansprache. Schwierige Ausdrücke sind für die Zielgruppe farbig unterlegt und mit handschriftlich anmutenden Randnotizen versehen. Auch die Illustrationen sind teilweise mit zusätzlichen Kommentaren angereichert und tragen so zu einem gut lesbaren und zugänglichen Leseerlebnis bei. Überhaupt findet die Autorin eine gelungene Balance zwischen angemessener Informationsdichte und erzählerischer Leichtigkeit, die besonders über den Bildwitz vermittelt wird. Die geradlinigen Illustrationen kommen ohne schwarze Konturen aus und bilden zwischen matt-erdigen Farben und kreativen Veranschaulichungen komplexer Vorgänge ein stimmiges Gesamtbild mit den typografischen Elementen.

Neben kulturgeschichtlichen Aspekten beschäftigt sich die Autorin aber durchaus auch mit Themen der Biologie und Lebensmitteltechnologie. Ob wir wissen, was wir essen? fragt etwa eines der Kapitel und negiert im nächsten Schritt ganz deutlich. Wer sich aber der Lektüre dieses Sachbuchs widmet, ist am Ende um einiges schlauer: Sei es in Bezug auf Zusatzstoffe in der industriellen Lebensmittelherstellung, unterschiedliche Bio- und Fairtrade-Siegel oder bestimmte Bakterienstämme und Nährstoffe. Dabei wird ganz deutlich zu einem Umdenken animiert: Regionalität, Qualität und keine Angst vor krummem Gemüse lautet die Devise. Und so schafft Ola Woldańska-Płocińska eine lohnenswerte Heranführung an ein komplexes Thema mit politischem Impetus.

LESEN – SPRECHEN – TUN

LESEN – Die kompakten Informationstexte lassen sich aufgrund der Annotationen auch von jungen Rezipient*innen wunderbar eigenständig lesen. Die zahlreichen Verweise auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge animieren außerdem dazu, weiter zu recherchieren und beispielsweise im Alltag die Lesebrille aufzusetzen: etwa bei der Inspektion der Produkt-Zutatenliste im Supermarkt.

SPRECHEN – Die Autorin geht in ihren Aufbereitungen eindeutig von einem mitteleuropäischen Kontext aus, die angesprochenen Probleme sind jedoch globaler Natur. Vieles davon kann in der Anschlusskommunikation klarer an die eigene Lebensrealität angebunden und noch einmal schärfer herausgearbeitet werden. Besonders wenn es um unmittelbar für jede*n Einzelne*n relevante Themen wie Lebensmittelverschwendung oder die Wahrnehmung und Wertung bestimmter Produkte geht, werden neue Informationen im Gespräch zu Alltagswissen verarbeitet.

TUN – „Das große Buch vom Essen“ enthält neben vielen Informationen auch ganz klare Handlungsempfehlungen. Und vieles, was angesprochen wird, kann recht einfach im Alltag nachgemacht werden: Das beginnt beim genauen Hinschauen bei Lebensmittelkennzeichnungen und geht bis zum Experimentieren in der Küche mit Aquafaba oder Fermentationsprozessen. Ob sich die Leser*innen durch die Lektüre dann wirklich dazu anhalten lassen, mittags wie vorgeschlagen von einem Hot Dog mit Pommes auf Hirse mit Honig, Moosbeeren und in der Pfanne gerösteten Walnüssen umzusteigen? Das muss wohl jede*r für sich entscheiden. Aber das Wissen um unsere Nahrung und die Prozesse ihrer Herstellung ist in jedem Fall essenziell für eine fundierte und selbstbestimmte Entscheidungsfindung.

Sarah Auer


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