MINT-Buch im Juni 2023

Aus d. Engl. v. Janika Krichtel-Brück.
Knesebeck 2023.
64 S.
Cathy Evans und Becky Thorns: Mit allen Sinnen. Warum Katzen im Dunkeln sehen und Menschen Gefühle riechen
Mit allen sieben Sinnen die Welt spüren – aber hallo, hallo! Sieben? Das waren doch immer fünf Sinne! Aber sieben, wie Zwerge und Geißlein und Rabenbrüder? Ja sieben, dabei handelt es sich hier nicht um ein Märchenbuch, sondern quasi um sein Äquivalent am anderen Ende des Spektrums: „Mit allen sieben Sinnen“ ist ein Sachbuch, das seine Leser*innen mit (harten) Fakten füttert und es auch nicht versäumt, altgediente Weisheiten als Nonsens zu enttarnen. Aber dazu später.
Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Tasten – das sind die Big Five unter den Sinnen und ihnen werden in dem großformatigen Sachbuch auch seitenstarke Kapitel gewidmet. Dazu gesellen sich im Anschluss noch als Nummer sechs Der Sinn für sich selbst sowie Nummer sieben: der Gleichgewichtssinn. Gemeinsam versammelt und um ein letztes Kapitel (übertitelt mit Andere Sinne) erweitert, ergibt sich hier die gesamte Sinnespalette, die sowohl in ihrer Tiefe als auch ihrer Vielfalt analysiert wird. Dass dabei auch vor komplizierteren Zusammenhängen und vor Fachvokabular nicht zurückgeschreckt wird, vermag wohl auch ältere Leser*innen zu ködern.
So beinhalte etwa das interozeptive System viele verschiedene sensorische Neuronen, die Informationen darüber, wie sich unser Körper von innen anfühlt, ans Gehirn weitleiten. Bevor man als Leser*in hier das Verständnis-Handtuch werfen kann, wird aber sogleich die praxisnahe Erläuterung nachgereicht: Eine volle Blase bedeutet zum Beispiel, dass wir auf Toilette müssen. Ein knurrender Magen bedeutet, dass wir Hunger haben. So weit, so klar und schon wieder etwas Neues gelernt. Die Formel, dass etwas an und für sich Komplexes angeführt und in der Folge an Beispielen und Illustrationen veranschaulicht wird, lässt sich auf das gesamte Sachbuch anwenden, das mit seinen 64 Seiten gleich mehrere prae-wissenschaftliche Gute-Nacht-Vorlesestunden ausfüllen kann. Hierzu eignet sich auch die offene Form ausgezeichnet: Zwar werden die Sinne entsprechend nach Kapiteln geordnet, auf den Doppelseiten aber präsentieren sich die Fakteninseln in lockerer Streuung, was auch zum Anlass genommen werden kann, Wissenshäppchen-Hopping zu betreiben. In serifenloser Schrift gehalten finden sich auf den meisten Seiten außerdem Kernaussagen zu den Kapiteln, die die Inhalte vereinfacht auf den Punkt bringen.
Findet sich reichlich (anspruchsvoller) Text im Buch, so bilden die Illustrationen eine großflächige und freundliche Ergänzung, die auch jene Leser*innen ansprechen kann, die sich vorerst mit dem Bild begnügen wollen. Vom Hochlandrind mit seinen 25.000 Geschmacksknospen (zum Vergleich: Menschen haben etwa 7.000) bis hin zu grinsenden Netzhautstäbchen und -zäpfchen, sind die Illustrationen Eyecatcher, die zum weiteren Erkunden einladen. Dass bei der Wahl der Motive Divergenz ganz selbstverständlich mitgedacht wurde, zeigt sich im Detail. So lernen wir vom Zusammenwirken der Tastrezeptoren:
Wenn wir die Hand eines Freundes oder einer Freundin halten, spüren wir die Wärme, die von seiner oder ihrer Haut ausgeht. Wir fühlen, wie weich oder rau seine oder ihre Haut ist, und den Druck der Finger – und zwar alles gleichzeitig.
Das Textfeld endet dreiecksförmig über den verschränkten Fingern zweier Bartträger.
Wie war das noch gleich mit der Zungenlandkarte?
Süß auf der Spitze, sauer auf den Seiten? Was für ein Quatsch! kommentiert das Buch und lädt ein, das quod erat demonstrandum selbst durchzuführe: Wenn du ein wenig Salz auf deine Zungenspitze streust (wo sich angeblich die Geschmacksknospen befinden, die für das Süße zuständig sind), schmeckt es trotzdem salzig, oder nicht? Also auf zum Salzstreuer und vor den Spiegel, zu den Augen, Ohren, der Nase und den Handflächen und hinein ins intensive Fühlen!
LESEN – SPRECHEN – TUN
LESEN – Für die Allerjüngsten wahrscheinlich noch überfordernd, kann das Buch den Wissenshunger von jenen, die schon zu lesen beginnen, umfangreich stillen. Welche Ausschnitte gelesen werden, kann etwa im Kapitelzusammenhang vertieft oder sprunghaft gewählt werden. Zum Selberlesen bietet es die Möglichkeit, mit dem neu erworbenen Faktenwissen bei nächster Gelegenheit schwer zu beeindrucken (Wer noch nicht weiß, was Superschmecker sind, kann das im Buch herausfinden). .
SPRECHEN – Was wirkt alles auf uns ein, wenn wir die Augen öffnen und eine Runde vor der Tür drehen? Die verschiedenen Kapitel laden dazu ein, dem eigenen Empfinden nachzufühlen und die eigenen sieben Sinne genauer unter die Lupe zu nehmen. Gerade weil die Texte teilweise recht anspruchsvoll sind, kann im Gespräch besonders viel altersgerecht ergänzt oder über das Gebiet hinaus weitererzählt werden.
TUN – Die eigenen Sinne hat man (meist) mit dabei, so lässt sich die Praxis einfach um die Theorie bauen: Ruhig sitzen und den Herzschlag eine Minute lang zählen, ohne den Finger am Puls zu haben, an einer reifen Himbeere schnuppern und sie im Anschluss auch auf ihren Geschmack testen, im schummrigen Zimmer nach Farben Ausschau halten … was empfinden und erkennen wir dabei und wie können wir es artikulieren? Die Optionen, fünf, sechs sieben oder mehr Sinne (auch vergleichend) zu erkunden, sind umfangreich und fordern außerdem dazu auf, eine eigene Sprache für das Fühlen zu finden.
Iris Gassenbauer
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