MINT-Buch im Mai 2023

Aus d. Span. v. Lea Bosshart.
Helvetiq 2023.
Cristina Cubells und Joana Casals: Klang. Spiele und experimentiere mit Geräuschen
Das weiche Rascheln der Bettdecken beim Aufwachen (darübergelegt, viel zu penetrant, das grelle Piepsen des Weckers). Wohltuendes Glucksen aus der Kaffeemaschine. Über den Asphalt schlurfende Gummisohlen am Weg zur Öffi-Station. Dann schon das hektische Bimmeln der Straßenbahn zwischen Motorengeräuschen und Gesprächsfetzen. Regentropfen, die auf Straßen und Autodächern zerplatzen. Für die meisten Menschen sind Geräusche und Klänge – obwohl meist nur unbewusst wahrgenommen – ständige Alltagsbegleiter*innen. Nicht ohne Grund weisen zahlreiche Studien die positiven wie negativen Auswirkungen unserer klanglichen Umgebung auf unser Wohlbefinden nach: Während zu viel Krach uns krankmachen kann und ein Drittel aller Österreicher*innen sich mittlerweile durch Lärm beeinträchtigt fühlt, hat (bewusst ausgewählte) Musik heilsames Potenzial. Sie reduziert den Stresspegel ihrer Hörer*innen und kann sogar körperliche Beschwerden lindern. Mit ihrem Buch „Klang. Spiele und experimentiere mit Geräuschen“ machen sich die spanischen Künstlerinnen Cristina Cubells (Regisseurin, Dramaturgin und Pädagogin) und Joana Casals (Grafikdesignerin und Illustratorin) daran, ihre Leser*innen in unterschiedliche Klangwelten zu entführen und Bewusstsein für deren Eigenheiten und Relevanz zu schaffen.
Sie wählen dafür einen einigermaßen ungewöhnlichen Zugang, der sich von der Informationsdichte eines klassischen Sachbilderbuchs bewusst spielerisch-handlungsorientiert entfernt: Anstatt theoretisch in die Akustik als Lehre vom Schall einzuführen, wird zum genauen Hinhören, Bewusstmachen und Ausprobieren animiert. Nach zwei thematisch einleitenden Seiten gelingt das mithilfe von zwölf unterschiedlichen räumlichen Sujets. Die Leser*innen werden mit jedem Umblättern in eine ganz neue (realistische oder fantastisch-fiktive) Umgebung gestellt – etwa eine weite Landschaft im Verlauf eines Sommergewitters, eine Zirkusmanege, eine Fabrik zur Wolkenreinigung oder ein nächtliches Kinderzimmer – die in ihrer individuellen Klanglichkeit jeweils doppelseitig inszeniert wird. Zeitlich sind es zwei Darstellungsformen, die zur Anwendung kommen: Einerseits werden auf Bildern mit Wimmelcharakter akustische Landschaften in der Momentaufnahme visualisiert, andererseits machen sequenziell gestaltete Seiten Abläufe und deren lautliche Entwicklung nachvollziehbar. Immer gemeinsam haben die Situationen ihre sprachliche Begleitung. Unter einem kurzen Paragraphen, der das Sujet noch einmal verbal greifbar macht (Es ist eine sommerliche Festnacht. Feuerwerke erleuchten den Himmel. Schau dort, eine erste Rakete startet!), findet sich eine kurze Handreichung zum jeweiligen Bild, die die Leser*innen zum klanglichen Experimentieren ermutigt (Versuche, die Töne von links nach rechts nachzumachen).
Die Idee dahinter ist so einfach wie überzeugend: Es geht ums Klänge-lesen, Kläng-erzeugen und mit Klängen spielen. Besonders ist daran, wie neben der üblichen Kombination aus Text und Bild akustische Signale als Handlungsimpulse umgesetzt werden. Die Künstlerinnen nehmen sich hier die Freiheit, anstatt nur einer Darstellungsweise verschiedene Zeichensysteme miteinander zu kombinieren. Während die Schönheit des sommerlichen Feuerwerks etwa durch onomatopoetische Schriftzüge umgesetzt wird (mit einer Menge Pfffffffiuuuuus, Pängs! und Paffs!), liegt es in einer geschäftigen Großküche an den Leser*innen, sich zu sprachlichen Impulsen (die Minze gießen, Spaghetti einsaugen, kaputte Teller) ein passendes Geräusch auszudenken. Im Dickicht des Waldes oder im Gewusel der Stadt dagegen zeichnen fantasievolle Symbole in Sprechblasen die Bewegungen und Lautstärken der Klänge nach. Auf unterschiedlichen kommunikativen Ebenen wird so die Aufmerksamkeit für unsere klangliche Umgebung geschärft, eigenes Erfahrungswissen aktiviert und der Spaß am Experimentieren gesteigert. Egal ob Soundword oder Symbol-Neologismus: Die Illustratorin arbeitet die Klang-Visualisierungen mit viel Sinn für farbliche Ausgewogenheit und gekennzeichnet von einer spielerischen, modern-geometrischen Verfremdung realer Größenverhältnisse und Proportionen in ihre Bildwelten ein. Die verwendeten Farbpaletten (vom harmonischen Übergang zwischen Blau- und Grüntönen in der Waldlandschaft bis zur Inszenierung der Komplementärfarben Orange und Blau in der städtischen Hektik) erzählen ihre eigenen Geschichten und machen das Erkunden der detailverliebt gestalteten Doppelseiten noch spannender. Die vielversprechende Einladung des Buchs – Willkommen zu deinem Klangabenteuer! – nehmen wir also nur allzu gerne und voller Motivation zum klanglichen Experimentieren an.
LESEN – SPRECHEN – TUN
LESEN – Was einerseits ein leicht verständliches und unterhaltsames Mitmach-Buch ist, birgt andererseits eine Menge Anreize, um das (Bilder-)Lesen zu üben. Neben den kurzen Sprachimpulsen wird hier nämlich vor allem über die visuelle Darstellung erzählt: im Wimmelbild, in sequenziell-narrativen Illustrationen oder in den kreativ gewählten Symbolen. Die Leser*innen suchen und finden ihre eigenen Wege durch die Bilder und gestalten das Ergebnis der Handlungsimpulse so entscheidend mit.
SPRECHEN – Besonders bietet sich natürlich ein gemeinsames Sprechen über die vielseitigen Bildwelten an. Davon abgesehen kann eine mögliche Anschlusskommunikation zur theoretischen Recherche oder Ergänzung Anreiz geben. Was wird in den Klangbildern eigentlich an akustischen Phänomenen visualisiert (etwa Frequenz und Lautstärke) und welche Bedingungen braucht es dafür?
TUN – „Klang“ ist konzeptionell gesehen ein Mitmachbuch; und ganz offensichtlich ist das Tun damit sein oberstes Lektüreziel. Die vielfältigen Anreize zum Handeln sind entsprechend schon im Buch angelegt, wenn Leser*innen sich haptisch und akustisch durch die Bilder manövrieren, nach idealen Geräuschen für bestimmte Impulse suchen oder mit dem eigenen Sprachapparat experimentieren. Und am Ende sind noch zwei leere Doppelseiten für den Entwurf ganz eigener Klangpartituren reserviert.
Sarah Auer
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