Lyrik-Tipps 2022
Lyrik-Tipp im Dezember 2022
Aus d. Spanischen v. Jochen Weber.
Baobab 2022.
40 S.
Micaela Chirif, Armando Fonseca, Amanda Mijangos und Juan Palomino: Das Meer
Welche Form hat das Meer?
Ist es rund? Ist es flach? Hat es Gräten?
Das Meer sieht nicht aus wie ein Fluss,
nicht wie ein Tiger,
nicht wie ein Hut und nicht wie eine Wolke
Die Faszination, die das Meer auf Menschen seit Jahrhunderten – wahrscheinlich seit Jahrtausenden – ausübt, lässt sich nur schwer in Worte fassen. Auch wenn genau das bereits vielfach in unterschiedlichsten literarischen Spielarten versucht wurde. In diesem Lyrik-Bilderbuch nähern sich die lateinamerikanischen Sprach- und Bildkünstler*innen Micaela Chirif, Armando Fonseca, Amanda Mijangos und Juan Palomino dem Meer als etwas Unbegreiflichem, Unfassbarem in behutsamen Schritten an. Jeder Doppelseite wird ein Gedicht gewidmet, in dem verschiedene Stimmen in Relation zu jener schier endlosen Wassermasse treten, die für die einen täglicher Lebensraum, für die anderen nur ein ferner Sehnsuchts(t)raum ist.
Ausgehend vom Himmel oszillieren die Gedichte – gleich einer Spiegelbewegung zwischen den magischen Welten über und unter uns – zwischen oben und unten, zwischen den tierischen sowie fabelhaften Bewohner*innen von (Tief-)See und Himmel. Letzterer eröffnet das lyrische Kaleidoskop aus Meerjungfrau, Wolken und Sternen, Oktopus, Tiger und Fluss. Und natürlich wird auch der Mensch in Bezug zum Meer gesetzt: auf lebensweltlich-ökonomischer Ebene (der Fischer), auf geografisch-relationaler Ebene (oft mithilfe direkter Leser*innenansprachen) und auf erfahrbar-affektiver Ebene (personifiziert durch eine Mädchenfigur, Rachel, die in mehreren Gedichten auftaucht). Semantische Dimensionen der (Wort-)Bedeutung werden dabei ebenso erkundet wie philosophische Fragen und gesellschaftspolitische Themen.
Der Fluss
Der Fluss entspringt als Rinnsal in den Bergen
Auf der Karte ist er tausend Kilometer lang
Wenn du ein Motorboot und Treibstoff hast,
ist er von Dorf zu Dorf vier Stunden lang
Wenn du bloß deine Füße hast,
ist er viele Tage lang
Der Fluss hat keine Füße, keinen Motor und keinen Treibstoff
Der Fluss eilt ohne Füße dahin
Der Fluss kann nicht schwimmen
Rachel kann schwimmen
Die Brücke streckt sich über den Fluss
Rachel und die Brücke gelangen ohne Ausweis über den Fluss
[…]
Auf sprachlicher Ebene arbeiten die Texte mit Formen und Mitteln, die dem Prinzip der Einfachheit folgen. Als Formkonstante im Kompositionsprinzip der Gedichte erweisen sich jene Hauptsatzreihen, die die einzelnen Verse in Anaphern-reicher Wiederholungsstruktur zu einem stimmigen Ganzen fügen und dabei einen ganz eigenen Rhythmus erzeugen. Auf einen oberflächlichen ersten Blick mag dies womöglich repetitiv erscheinen. Lässt man sich aber auf die besondere Poetik von Micaela Chifrins – durch Jochen Weber kunstvoll und sorgsam aus dem Spanischen übertragenen – Sprache ein, eröffnen sich in und zwischen den Gedichten vielstimmige Hallräume.
Diese werden in den atmosphärischen, von Armando Fonseca, Amanda Mijangos und Juan Palomino gemeinsam angefertigten Illustrationen auf stimmungsvolle Weise weitergetragen und vervielfältigt. Es sind nur einzelne Bildfragmente, die sich zu dem in den weißen, leeren Seitenraum gesetzten Text fügen. Einzelne Versatzstücke des Meeres, ins Bild gebracht in Aquarell, Tusche und einer Vielzahl weiterer Materialien und Druck- sowie Zeichentechniken, fügen sich zu stimmungsvollen, phantastisch anmutenden Landschaften, Figuren und Eindrücken, die in ihrer gestalterischen Vielfalt den Reichtum an Erfahrungen und die Mehrdimensionalität unserer Welt widerspiegeln.
Der schwer zu beantwortenden Frage, was ein Wesen oder eine Entität wie das Meer ausmacht, nähern wir uns dabei Schritt für Schritt über ein Nachdenken darüber an, was diese(s) nicht ist. Letztlich kann der Unergründlichkeit des Meeres jedoch nur eine tautologische Formel Genüge tun.
Das Meer ist eine nicht endende Linie
Das Meer ist sehr schwer und gekrümmt
[…]
Das Meer schläft nicht
Das Meer verreist nicht
Das Meer stirbt nicht
Das Meer rauscht, rauscht, rauscht
[…]
Das Meer ist groß wie das Meer
Wenn du alles verbindest, kannst du seine Form sehen
Wenn du nichts siehst, bist du im Meer
Claudia Sackl
Lyrik-Tipp im November 2022
Aus d. Niederländ. v. Rolf Erdorf.
Susanna Rieder Verlag 2022.
136 S.
Bette Westera und Sylvia Weve: Auseinander
Und sie lebten glücklich bis an das Ende ihrer Tage… – Während die alte Zauberformel trautsames Gemeinsam bis zum Schluss prophezeit, könnte es in Bette Westeras „Auseinander“ heißen: sie lebten, oder lebten auch gar nicht, gemeinsam hin und wieder) bis zu einem gewissen Zeitpunkt und dann taten sie etwas ganz Anderes.
Aber wird Schneewittchen darüber Tränen weinen? Oder der dritte Bruder zum Stalker geraten? Nein, nicht in „Auseinander“ (schon alleine, weil hier keine Märchenfiguren durch die Erzählung schreiten). Dafür begegnen wir in insgesamt 44 Kleinpoesien einem Potpourri an (Familien-)Verhältnissen, die allesamt nebeneinander bestehen dürfen. Da küsst der Vater die Französischlehrerin und bleibt nicht unentdeckt, da gibt es eine Tante, die dem Onkel den Laufpass gibt und ihn somit aus dem Leben der Nichte bugsiert (was diese sehr bedauert), es gibt neue starke Halbbrüder mit Beschützerrolle und Großeltern, die in der Scheidung endlich einen Befreiungsschlag sehen. Und Mama?
Ihre erste Beziehung hatte sie mit Hein
und meinte, es würde für ewig sein.
Es folgten Max und danach Frieder.
Auch bei Papa meinte sie es wieder.
Doch da kam Jan, Feuerwehrmann,
der alles wagt und alles kann.
Und plötzlich meint sie es nicht mehr,
jedenfalls nicht bei Papa. Und bei Jan?
Jetzt schon, bloß für wie lange noch? Und dann?
Es gibt also das Verlassenwerden und das Zusammenkommen, das Durchhalten oder Aufgeben, die Kränkungen, die Unsicherheiten und die Neuanfänge. Und all diese Betrachtungen in Wort und Bild erkennen an, dass neben dem einen konventionellen Mutter-Vater-Kind(-Haus-Auto-Labrador)-Konzept noch viele mögliche und unmögliche Konstellationen des menschlichen Zusammenseins existieren. Das unbestreitbar Schöne daran: Sie haben es in ein Buch geschafft, dass an junge und ältere Leser*innen adressiert ist.
Die Vielfalt des Daseins in ihrer wunderbaren Wildheit und ihrer erschreckenden Ungerechtigkeit betrachtet Bette Westera hier nicht zum ersten Mal. Groß war ihr 2016 auch im Deutschen erschienen „Überall & Nirgends“ (ebenfalls Susanna Rieder Verlag), das ins Jenseits und ins Kurzdavor blickte. Mit „Auseinander“ setzt sie sich den Stacheln und Widerhaken aus, die am Rücken der Liebe wachsen und zeigt, dass das Happy Ever After im Pool der Optionen nur eine von vielen ist.
Aus den reichlich vorhandenen Worten, die über dieses bittersüße und hochweise Gesamtkunstwerk zu schreiben wären, sticht auch das Lob an die Form hervor: Nein, es ist kein Fehler, dass die Seiten nicht beschnitten sind. Hier ist japanische Buchkunst zum Einsatz gekommen. So wird die dem Bilderbuch traditionell eigenen Doppelseiten in „Auseinander“ noch einmal ausgeweitet: Das Umblättern teilt den Fortlauf von Text und Bild nicht unbedingt. Manche Bilder laufen über den Bug und manche Worte stellen sich quer. So werden die einseitig bedruckten und gefalteten Seiten zu einem Breitbandfilm, den wir beim Lesen als nicht unterbrochene Erzählung aufnehmen können. Text und Illustration setzen sich hier aber nicht stur über die Form, sondern spielen vielmehr mit ihr und dem erweiterten Raum.
Was dem Layout gelingt, nämlich in seiner Form zu überraschen, gelingt Bette Westera auch inhaltlich: (Denk-)äume erweitern und Überraschungen zulassen. Ihre Miniaturen sind Beobachtungen dessen, was passieren kann, wenn Menschen (sowie Schwäne, Pinguine oder Chihuahuas) zusammen und auseinander kommen oder auch nur nebeneinander stehen. Dass sich Gefühle hier nicht an Konventionen klammern, sondern Achterbahn fahren können, gibt so schon den jüngsten Lesenden die Botschaft mit: Wie auch immer es in deinem Leben aussieht: Ein „Normal“ oder „So soll es sein“ gibt es schon einmal gar nicht. Nicht immer ist das „Anders“ gut oder gar angenehm, aber es ist eben auch Teil des Durcheinanders, das wir Leben nennen.
Schließlich tun auch Sylvia Weves Illustrationen das ihrige dazu, die Texte zu umspielen und den narrativen Raum zu erweitern. So sind einem ungleichen Elternpaar (Mama redet gern und viel, Papa schweigt da lieber. /Papa ist ein Denker, sie jongliert mit Meisterschaft. /Sie gibt sich eher königlich, er dafür den Krieger. /Papa ist wie ein Labrador, die Mama katzenhaft.) ein Kätzchen in Kostüm und Markenhandtasche und ein akkordeonspielender Hund an den Leib illustriert. Jedes Bilddetail erweitert den Text und tut dies nicht offensichtlich; es gibt uns Lesenden kleine Rätsel auf, die erst entschlüsselt werden müssen und die auch ohne Textkenntnis zu kopfcineastischen Erzählungen führen können.
Und die wohl größte Stärke des ab acht Jahren empfohlenen Buches? Es wertet nicht. Es hebt nicht den moralischen Zeigefinger und drückt uns auch nicht aufs Auge, dass zwei Pinguinpapas das Recht darauf haben müssen, ein Pinguinbaby auszubrüten. Das haben sie nämlich ohnehin. So versteht sich „Auseinander“ vielleicht als Atlas des Möglichen. Wie wir damit umgehen, liegt letztendlich an uns – Spaß beginnt es dann zu machen, wenn wir die Vielfalt in unsere laut klopfenden Herzen schließen.
Iris Gassenbauer
Lyrik-Tipp im Oktober 2022
Mit Ill. v. Rotraut Susanne Berner.
Hg. v. Uwe-Michael Gutzschhahn.
dtv 2022.
80 S.
Hanna Johansen: Alphabet der Träume
Wenn es dunkelt und munkelt tun sich magisch verwischte Zwischen- und Transiträume auf, die mitunter von bizarren Besucher*innen frequentiert werden. – Ach, düster ist es sehr im Dunkeln, auch wenn am Fenster Sterne funkeln. – Da taucht manch seltsames Getier auf – vielleicht ein Brillenbär auf der Suche nach …, oder ein unvermutet schutzbedürftiger Eisbär, oder ein Gemöse fressender Tapir. Nicht unerwähnt bleiben sollen auch der Frosch, dessen Mission mitnichten jene ist, ein Prinz zu werden, oder die Unke, die zwar unkt und unkt und unkt, aber sich partout nicht reimt … Wie auch immer – es sei angeraten, ganz unvoreingenommen durch diese traumhafte Sammlung von (Kinder-)Gedichten zu streifen, die dramaturgisch keck von Vorspiel, Zugaben und einem verschmitzt tönenden Schlussakkord umrahmt wird.
Strukturiert ist das Bändchen nach dem Alphabet: Jeweils ein Buchstabe ist – meist – einem Tier gewidmet, rund um das sich kleine Abenteuerlichkeiten bzw. Absurditäten entspinnen, die oft unerwartete Wendungen nehmen, jedoch stets mit einer witzig-erfrischenden Pointe überraschen.
Zeitlich und räumlich verortet sind die unterschiedlich langen, bisweilen einem ungewöhnlichen Rhythmus folgenden Reime im nächtlichen (Kinder-)Schlafzimmer: Einschlafängste, (Alp-)Träume, Begegnungen mit Gespenstern, Monstern, Räubern und Hexen, realen oder phantastischen Tierwesen wie dem Vierhornschaf oder Nessie – mit solchem wird ein unbenanntes Gegenüber konfrontiert und in ein prickelndes Spiel mit den Unheimlichkeiten der Nacht verwickelt: Dunkelheit und Schatten, träumerische Verstrickungen und bange machenden Bedrohungen, die sich allerdings immer leichtfüßig und humorvoll auflösen. Wortspiele, Mehrdeutigkeiten, Verdrehungen oder ungewöhnliche Zusammenhänge prägen diese besondere Gedichte-Sammlung und verleihen ihr irisierende Strahlkraft. Das tun vor allem auch die – nicht nur – feinsinnig auf den Inhalt eingehenden, sondern auch Subtexte und diverse Einschreibungen aufgreifenden Illustrationen von Rotraut Susanne Berner, der ausreichend Raum gegeben wird, die kleinen „Schaurigkeiten“ entsprechend ins Bild zu setzen. Die unkonventionell inszenierten Doppelseitenkompositionen bestechen und amüsieren durch augenzwinkernd-charmante Details, kräftige Farben und dynamische Bewegungsabläufe, die auch den jeweiligen Buchstaben kreativ in die Szenerien integrieren. In der enthusiastisch herbeigeklatschten Zugabe treffen wir schließlich auf sechs wunderbare Hexen, die ein ungeahntes Potenzial an Zauberkraft besitzen, das nicht nur frohge- und mutig macht, sondern auch die ganze Welt umspannt und …:
(…) Ich bin die Hexe Ganzundgar,
bin unsichtbar, mit Haut und Haar.
Wenn euch mein wildes Hexen stört,
dann hex ich, dass mich niemand hört,
und hexe weiter hier und dort
und krumm und grad in einem fort
und kurz und lang, davor, dahinter
und Gut und Böse, Sommer, Winter,
drinnen und draußen und unten und oben,
hab schon die ganze Welt verschoben.
Ela Wildberger