Anna Woltz: Nächte im Tunnel. Aus dem Niederländ. v. Andrea Kluitmann. Hamburg: Carlsen 2022. 224 S.; 17 €.

Erwachsen werden im Ausnahmezustand

Mit Decken und Schlafsäcken notdürftig eingerichtete Schlafplätze, Haustiere neben Kleinkindern, Musikinstrumente neben Koffern: Szenarien wie diese aus den U-Bahnstationen der ukrainischen Hauptstadt, in denen Zivilist*innen Schutz vor den Kriegshandlungen suchen, verdeutlichten in diesem Jahr was Krieg konkret heißt. Und wurden dementsprechend in Social Media ebenso wie in traditionellen Medien vielfach verbreitet. Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, dass die eigentlich für den Nahverkehr errichteten U-Bahn-Tunnel umfunktioniert werden müssen: Die niederländische Autorin Anna Woltz erzählt in ihrem neuen Jugendroman von einigen Tagen in London im September 1940, jenen Tagen, die in die Geschichte als „The Blitz“ eingingen und denen rund 43.000 Menschen zum Opfer fielen. Ich-Erzählerin Ella ist 14 und möchte nach einer überstandenen schweren Polio-Erkrankung eigentlich endlich anfangen zu leben. Doch: „Wie lebt man weiter, wenn man weiß, dass wir alle kaputtgehen?”  Nacht für Nacht übersiedelt die ganze Familie inklusive des abenteuerlustigen kleinen Bruders Robbie auf der Flucht vor den Bombenangriffen in eine U-Bahn-Station. Dort lernt sie auch Jay kennen, der sich ganz allein (und an der Grenze der Legalität) durchschlägt, und sie mit seiner abgebrühten, aber durchaus liebenswerten Art ebenso anzieht wie irritiert. Dazu stößt dann noch die lebenslustige und selbstbewusste Quinn, die vom elterlichen Adelssitz am Land abgehaut ist, um als Krankenschwester ihren Beitrag zum Sieg zu leisten. Der gewitzte Jay weiß eine Alternative zu den ewig überfüllten, stickigen U-Gleisen: die menschenleeren, dunklen Tunnel nach dem Ende des Bahnsteiges. Die jedoch in Ella schreckliche Erinnerungen an ihre lange Zeit im Krankenhaus wecken: „Aber nie im Leben werde ich mich in diesen Tunnel trauen. Nicht nach jenem anderen Tunnel.“ Doch schließlich wagt sie es, und der Tunnel wird zum zentralen Handlungsort, an dem Karten gespielt und Geheimnisse ausgetauscht werden, aber auch schließlich von der literarisch ambitionierten Ella die Lebensgeschichte jener Figur des Quartetts aufgeschrieben wird, die die Bombenangriffe nicht überlebt.  Ein weiteres Mal stimmig von Andrea Kluitmann übersetzt erzählt Woltz von besonderen Figuren in besonderen Bedingungen, von den Schrecken des Krieges gleichermaßen wie von der Liebe und vom Erwachsen werden allen Widrigkeiten zum Trotz. Denn: Unser Leben fängt gerade erst an.

Kathrin Wexberg

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