Alexandra Helmig / Stefanie Harjes:
Der Stein und das Meer
mixtvision 2020, € 18,50

Es gibt Bilderbücher, in denen die Sonne ein Gesicht hat. Mit Schaudern wendet man sich ab, bedrängt vom grellen Kitsch, mit dem Erwachsene die angeblichen Bedürfnisse von Kindern stillen wollen, ohne deren Recht auf Ästhetik wahrzunehmen.
Es gibt Bilderbücher, in denen ein Fels ein Gesicht hat. Ein Gesicht ist. Und man kann gar nicht genug bekommen davon. Wie konnte das passieren?
Passiert ist ein kleines künstlerisches Meisterwerk im Bilderbuchformat. Passiert sind lyrische Texte von schlichter Schönheit und assoziative Illustrationen, die die angedeuteten Vorstellungswelten üppig ausinszenieren und zu einer Ästhetik der Zeit und des Zeitlosen erweitern. An Kinder adressiert bleibt das Bilderbuch dabei durch einen eigenwilligen Protagonisten:
Sören sieht dreihundertfünfundsechzigtausend Sonnenuntergänge / und eine Milliarde Regentropfen vom Himmel fallen. / Als er den vierhundertsiebenundzwanzigsten / Regenbogen zählt, / sagt der Fels: Du musst warten, / bis das Meer zu Dir kommt.
Sören ist eingeschrieben in eine kinderliterarische Tradition belebter Dinge – obwohl er nicht handelt, sondern nur Wünsche äußert: Als Stein möchte er nicht mehr auf einem Felsen im Meer liegen, sondern zum Teil der Fluten werden. In der langen Zeit des Wünschens und Wartens passiert also eigentlich nicht viel. Und doch Zahlloses, denn die Illustratorin Stefanie Harjes lädt das Wasser mit Fragmenten dessen auf, was Menschen über Jahrhunderte hin erlebt oder sich vorgestellt haben. Sie dynamisiert ihre Doppelseiten durch die breiten Pinselstriche ihres Tusche-Meeres und reichert diese Welt mit collagierten, gezeichneten, geklebten Requisiten und Figuren an. Diese tauchen auf und tauchen ab oder überdecken als zartgliedrige Zeichnungen gleichermaßen wie als luftig aquarellierte Schattenrisse den Strand.
Felsen, Meer, Sand, Wind und Wolken: Die Elemente gehen ineinander über und werden immer wieder repräsentiert von faszinierende Figurationen, Frauenkörpern oder geflügelten Wesen. Als Sörens Wunsch durch einen Jahrhundertsturm endlich erfüllt wird, tauchen die Bilder in Unterwasserwelt und fächern ein Panoptikum animaler und hybrider Meerwesen auf. Bis Sören von einem Kind am Strand aufgelesen wird – als Glücksstein. Noch einmal durchlebt er eine Metamorphose seines Daseins: Du musst ihn wegwerfen, damit das Glück zu dir fliegt. Und dort ist es angekommen, das Glück. Als künstlerischer Bilderbuch-Ausflug in eine zeitlose Traumwelt.

Heidi Lexe

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