Lektorix des Monats Februar 2020
Rébecca Dautremer:
Das Stundenbuch des Jacominus Gainsborough.
Insel 2019, S. 56, € 20,60
Ganz im Sinne Erich Kästners beginnt dieses scheinbar aus der Zeit gefallene Bilderbuch mit einer Leseransprache: „Bist du erwachsen, meinst du vielleicht, dass dieses Buch nichts für dich ist, denn es ist voller Bilder. Aber warum denn? Ich habe das Buch natürlich auch für Erwachsene gemacht.“ Für diese viel zu selten direkt ausgesprochene Frage sollte der französischen Bilderbuchkünstlerin ein Orden verliehen werden. Doch auch für die großformatigen Illustrationen, die an Breughels „Kinderspiele“ genauso erinnern wie an Dalí ohne Uhren, flämische Landschafts
malerei oder einfach nur an den im Bereich der Illustrationskunst durchaus renommierten Namen Rébecca Dautremer, der aufgrund der vorliegenden Bilderbuchkunst allgemeine Anerkennung verdient hat. Neben den detailverliebten Illustrationen in Form von freigestellten Figurenzeichnungen, der Ästhetik eines Familienalbums nachempfundenen Fotografien oder ausladenden Panoramen, die man immer und immer wieder erkunden möchte, entsteht ein zu tiefst melancholischer Blick auf ein ganzes Leben, das einen wortkargen sowie romantischen Hasen mit dem wohl klingendsten Namen der Bilderbuchgeschichte ins Zentrum einer gewitzt-philosophischen Erzählung stellt, die bereits im Vorwort viel französischen Esprit versprüht: „Es ist eine poetische und raffinierte Art, vom Leben eines Menschen zu erzählen. Und raffiniert heißt in diesem Fall, dass ich ein kompliziertes Wort wie ‚Stundenbuch‘ verwendet habe, um etwas Einfaches wie das Leben auszudrücken.“
„Nichts leichter als das“, mögen sich noch immer skeptische Leser*innen denken. Doch nicht nur die klug gewählte Erzählperspektive und die damit im Wechselspiel stehenden, monumental wirkenden Landschafts- beziehungswiese Stadtbilder erlauben einen angemessen distanzierten Blick auf eine ein gesamtes Leben umfassende Geschichte, sondern vor allem die ruhigen Momente, die die Entwicklung des heranwachsenden Jacominus auf sensible Weise einzufangen wissen. Unter ein in Graustufen gehaltenes, illustriertes Foto, auf dem ein Vogelschwarm vor einer stürmischen Wolkenfront vorbeizieht, setzt Dautremer den einfachen Satz: „Er lernte nachzudenken, bevor er sprach…“ und unter das Bild, das den Titelhelden auf einer Parkbank unter einem weit ausladenden, weiß-blühenden Baum zeigt, ist zu lesen: „Ich habe dich sehr gemocht, mein kleines Leben. Du hast mir ein kleines Holzscheit gegeben, ein verrücktes Bein und harte Nüsse zu knacken, aber ich habe dich sehr gemocht.“
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