Lektorix des Monats Oktober 2019

Elizabeth Acevedo:
Poet X.
Rowohlt Rotfuchs 2019, S. 352, € 15,50
Im englischsprachigen Raum ist die Gattungsform des Versromans – gerade in der Jugendliteratur – keine Seltenheit. Auch die irische Sarah Crossan, der australische Stephen Herrick, vor allem der afroamerikanische Autor Kwame Alexander (dessen Bücher leider nicht auf Deutsch vorliegen) und zuletzt auch Jason Reynolds rhythmisieren ihre literarischen Texte in Zeilenbrüchen und spielen mit Klang, Tempo und Form ihrer Sprache. Auf besonders ausdrucksvolle und überzeugende Weise nutzt Elizabeth Acevedo diesen lyrisch-prosaischen Modus in ihrem literarischen Debüt. In „Poet X“ erzählt die junge afrodominikanische Autorin aus den USA von einem hispanischen Mädchen, dessen Familie aus der Dominikanischen Republik nach New York migriert ist: Weder mit der gottesfürchtigen Mutter noch mit dem verschwiegenen Vater kann sich Xiomara identifizieren. Als die einzige in der Familie, die keinen biblischen Namen trägt, verweist schon ihr Name auf ihren devianten, kämpferischen Charakter. Xiomara ist kein braves Mädchen, das still in Blumenkleidchen lächelt. Sie ist „Babyspeck, der sich in D-Körbchen und geschwungene Hüften verwuchs“, sie ist „dunkel und kurvig und wütend“. Wütend über die männlichen wie weiblichen, erwachsenen wie gleichaltrigen, gesellschaftlichen wie familiären Zugriffe auf ihren weiblichen Körper. Wütend über die alltäglichen sexualisierten Mikroaggressionen und normalisierten Übergriffigkeiten einer Gesellschaft, die Xiomara gelehrt hat, ihren Körper als „Unannehmlichkeit“ zu begreifen und das „Problem“ bei sich selbst anstatt den Anzüglichkeiten anderer zu suchen. Ihr körperliches Zuviel versucht sie hinter zu großen Klamotten zu verstecken. Ihre ungestüme, aufbegehrende Stimme weiß sie zunächst jedoch nur in jenen Verszeilen zu äußern, die sie in ihrem Notizheft niederschreibt – und die auch das vorliegende Buch speisen. Nur schrittweise wagt sie es, aus dieser Selbstzensur auszubrechen und ihre Gedanken und Empfindungen laut aussprechen: zuerst alleine vor dem Spiegel, dann auch gegenüber ihrem Bruder und ihrer besten Freundin, und schließlich in einem Spoken Word Poetry Club. Für Xiomara birgt dieses Schreiben und Performen eine Widerstandsform, mithilfe derer sie zu ihrer Stimme und ihrem Körper (zurück-)finden und sich die Sprache ihrer Unterdrücker aneignen und neu ausrichten kann. Dabei wird der Poetry Slam für sie zu jenem „Boxring“, in dem sie Konflikte diskursiv aushandeln kann und nicht mehr verbergen muss, was ohnehin „unversteckbar“ ist.
Claudia Sackl
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