Lektorix des Monats Juni 2019

Aline Sax:
Grenzgänger.
Aus dem Niederl. v. Eva Schweikart.
Urachhaus 2019, S. 493, € 19,00
Unter Zeitgeschichte wird per definitionem jener Abschnitt der Geschichte verstanden, den zumindest ein Teil der Zeitgenoss*innen schon bewusst miterlebt hat. Insofern ist aus heutiger Sicht die DDR bereits Zeitgeschichte. Im Nachwort zu ihrem üppigen Roman beschreibt die Autorin Aline Sax, promovierte Historikerin, wie sie den Mauerfall als Fünfjährige zwar mitbekam, aber die historische Tragweite der Ereignisse nicht abschätzen konnte. Erst als sie als junge Erwachsene in Berlin zum Zweiten Weltkrieg forschte, wurde ihr bewusst, wie sehr die frühere Teilung das Leben auch fünfzehn Jahre später noch prägte. Sie begann zu recherchieren und beschloss auf erzählende Weise der Frage nachzugehen, wie es wohl gewesen sein mag, das mitzuerleben. Dafür wählte sie drei Ich-Perspektiven aus drei verschiedenen Phasen der DDR: Ihren Ausgang nimmt die Geschichte im Jahr 1961, in einer wenig bekannten Phase der Teilung, als die Grenze noch offen war und Menschen wie die erste Erzählstimme Julian Niemöller als sogenannte „Grenzgänger“ arbeiten konnten, also im Osten lebten, aber zum Arbeiten in den Westen pendelten. Dann ist von einem auf den anderen Tag die Grenze zu, seine Arbeitsstelle ebenso wie seine Freundin plötzlich unerreichbar. Julian kann sich damit nicht abfinden und plant gemeinsam mit seinem Bruder die Flucht. Die nächste Perspektive gehört seiner Nichte Marthe, die 1977 gemeinsam mit ihrem Bruder heimlich subversive Aktivitäten gegen das Regime startet und sich dabei die Weiße Rose zum Vorbild nimmt. Die dritte Sicht wiederum erlebt 1989 die letzte Phase der DDR und gehört Marthes Cousine Sybille, die sich gut mit ihrem Leben arrangiert hat und erst durch eine familiäre Krise beginnt, über ein mögliches Leben außerhalb der Mauer nachzudenken. Aline Sax versteht es, ihre Fülle an Quellen und Informationen so stimmig in die Handlung einzubeziehen, dass man sich dabei nie erschlagen fühlt – trotz aller Detailgenauigkeit liest sich der fast 500 Seiten starke Roman ungemein spannend. Gerade in der aktuellen politischen Situation, in der weltweit autoritäre Machthaber*innen wieder stärker werden, ist es ebenso aufschlussreich wie schockierend zu lesen, was es konkret heißt, in einem Staat wie der DDR zu leben: Wo Grenzsoldaten völlig selbstverständlich auf ihre Mitbürger*innen schießen, deren einziges Verbrechen es ist, das Land verlassen zu wollen. Wo in universitären Lehrveranstaltungen Unterricht darin besteht, Polit-Phrasen wiederzugeben. Und wo Menschen von einem Tag auf den anderen verschwinden…
Kathrin Wexberg
>>> hier geht es zu den Lektorixen 2019
