Lektorix des Monats Februar 2016
Ich denke.
Porträts von Ingrid Godon
mit Texten von Toon Tellegen.
Aus dem Niederl. v. Birgit Erdmann.
München: mixtvision, S. 96, € 30,80
Ein gelungenes Gedankenexperiment
Stellt man einer ins Leere starrenden Person die Frage „Was denkst du gerade?“, wird dies in den meisten Fällen mit einem schlichten „Nichts“ quittiert. Somit dürfte diese Antwort zu jener Kategorie Lüge zählen, die der Mensch unhinterfragt akzeptiert. Ehrliche Antworten auf die zutiefst poetische Frage sind im Bilderbuch „Ich denke“ von Ingrid Godon und Toon Tellegen versammelt. Ob die Bezeichnung Bilderbuch in diesem Fall überhaupt zutrifft ist eine weitere Frage. Das dem A4-Schnitt nahe kommende Hochformat, das auf über 90 Seiten historisch anmutende Porträts aneinanderreiht, erinnert mehr an einen Bildband, der zu repräsentativen Zwecken vorgelegt wird. Als „Coffe Table Book“ darf dieses gelungene Gedankenexperiment in Buchform aber nicht bezeichnet werden.
Dagegen sprechen unter anderem die kursiv gesetzten Miniaturen von Toon Tellegen, deren literarische Qualität in Birgit Erdmanns Übersetzung keineswegs verloren geht. Die kurzen Texte, die fast immer mit den Worten „Ich denke“ eingeleitet werden, heben das Denken auf unterschiedliche Weise auf die Metaebene. Einmal wird über die verschiedenen Arten des Denkens nachgedacht, ein anderes Mal schafft der niederländische Autor komprimierte Denkbilder, die intime Einblicke in die Gedankenwelt eines erzählenden Ichs erlauben. Der dramaturgische Höhepunkt der Denkreflexion folgt auf die Aussage „Ich denke, dass ich es irgendwie herausgefunden habe.“ Das „es“ des Satzes bleibt undefiniert und lässt somit gedanklichen Spielraum für die wunderbaren Momente des Erkennens, des Verstehens, des Begreifens. Ingrid Godon illustriert dieses Hochgefühl auf acht aufeinanderfolgenden Seiten: Man schlägt Purzelbäume, im Sprung werden die Versen aneinandergestoßen und die Arme hinter dem Kopf verschränkt.
Dieses skizzenhafte Intermezzo, das mehrere beseelte Figuren auf engem Raum vereint, unterbricht die zuvor etablierte Anordnung, die das sonst so abstrakte Phänomen Denken in Bild und Text eindrücklich versinnbildlicht: Denn die großformatigen Porträts der Illustratorin werden auf den Doppelseiten stets den literarisierten Gedanken gegenübergestellt und beflügeln so die Assoziationen, die bei der Lektüre initiiert werden. Ingrid Godon stellt ihre Figuren in den Mittelpunkt, vor leere Hintergründe und bleibt auch in der Farbgestaltung mit schwarzen, weißen und roten Tönen zurückhaltend, wodurch dem freien Spiel der Gedanken viel Platz gegeben und jüngeren und älteren Denker*innen Anlass für das Gespräch über (bisher nur) Gedachtes geliefert wird.
Peter Rinnerthaler
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