Lektorix des Monats Dezember 2012
Von Meerjungfrauen, Kapitänen & fliegenden Fischen. Geschichten und Gedichte rund ums Wasser.
Hg. v. Renate Raecke.
Ill. v. Stefanie Harjes.
Boje 2012.
205 S. € 20,60.
Textreisen ins Wasser
"Eine Anthologie soll im besten Fall eine "Verführung" zum Lesen (…) sein" und in der hier vorliegenden "finden sich Texte, die alle Stimmungen, Farben und Gerüche des Wassers wiedergeben", so heißt es im Vorwort. Und das verführt – nicht nur zum (Weiter)Lesen, sondern auch zum Selber-Ausprobieren, zum Lachen, Nachdenken und Sich-Treiben-Lassen. Um dieser Vielfalt an Emotionen und Assoziationen gerecht zu werden, sind verschiedenste Genres und Autor*innen zusammen gestellt und laden zu einer Reise über Meere, Seen und Flüsse quer durch die Literatur. Bereits die anregenden Kapitelüberschriften versprechen Abwechslung und Unterhaltung: "Eine kleine Sehnsucht und ein großes Verlangen", "Leichte Brisen, schwere Stürme und eine Prise Mut", "Das Meer sprang aus der Badewanne". Und so tummeln sich moderne Autoren neben Klassikern und Poeten neben Belletristen. Dabei werden u.a. kleine Kurzgeschichten zum Besten gegeben, Gedichte präsentiert, Balladen entrollt, Romane zurechtgestutzt, sowie Sagen und Märchen erzählt. Für jeden Geschmack ist etwas dabei: Meerjungfrauen mit meergrünem Haar, das funkelt "wie geschmolzene Butter auf Spinat"; halb hingezogene, halb hingesunkene Fischer; liebestolle Walrosse, die sich mit ihren Stoßzähnen beim Küssen in Acht nehmen müssen; tollkühne Kapitäne, die Schiffe durch Stürme manövrieren; diverse Fischarten: "Da merkte selbst der Kabeljau: / Na, jetzt ist die Forelle blau!"; onomatopoetische Regenlieder; sogar ungewöhnliche Rezepte. Die Vielfältigkeit der Literatur beweist sich hier in bunter Kurzweil: "mal spannend und dramatisch, mal fröhlich und skurril, mal tragisch, mal komisch, mal sinnig und mal unsinnig". Unterstrichen wird diese Mannigfaltigkeit von den heterogenen Illustrationen Stefanie Harjes. Während die Kapitelüberschriften jeweils malerisch auf einer Doppelseite in Szene gesetzt werden, stehen den einzelnen literarischen Ergüssen divergierende Illustrationen zur Seite: Manchmal reicht schon die Skizze eines Einrad fahrenden, skeptischen Seepferdchens aus, um dem drohenden Sturm im Gedicht etwas von seinem Angstpotential zu nehmen. Anderswo verschwinden Bilder und Fließtext unter einem großflächigen Blau und sind infolgedessen tatsächlich "unter Wasser". Die differenten Techniken reichen von Collagen über Aquarell bis zum Kartoffeldruck und unterstreichen so die unterschiedlichen Spektren des Wassers. Bis wirklich jedes sprachliche und inhaltliche Detail dieser Anthologie erkundet ist, fließt noch viel Wasser den Bach hinunter…
Elisabeth von Leon
Buchtipp in DIE FURCHE 49/6. Dezember 2012
Avram Kantor: Schalom.
Aus dem Hebr. v. Mirjam Pressler.
Hanser 2012.
240 S., 16,40.
Nicht vergangene Vergangenheit
"Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen." William Faulkners vielzitierter Satz trifft auch auf Nechama Silber zu, eine alte Frau, die den Holocaust überlebt hat und sich mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann in Israel ein neues Leben aufgebaut hat. Dazu gehört auch, dass die Ehe des Sohnes mit einer Deutschen für sie nicht akzeptabel ist, beharrlich hat sie sich geweigert, Sohn, Schwiegertochter und die beiden Enkel, die in Deutschland aufwachsen, jemals zu treffen. Auch als der mittlerweile achtzehnjährige Enkel Gil nach Israel kommt, um dort in einem Altersheim Zivildienst zu leisten, verbittet sie sich jeden Besuch. Doch als dann plötzlich ein junger Mann mit einem seltsam vertrauten Lächeln vor der Tür steht, der noch dazu mit der Stimme ihres geliebten Mannes Menachem spricht, ist plötzlich alles anders... Avram Kantor erzählt die Geschichte der Familie Silber aus verschiedenen Perspektiven und macht so deutlich, wie sehr Ereignisse aus der Vergangenheit, über die nie gesprochen wurde, das Leben aller auch noch in der dritten Generation prägen. Stimmig wirkt, dass auch die Begegnung zwischen Nechama und Gil nicht dazu führt, Familiengeheimnisse aufzudecken oder erlittenen Schmerz "aufzuarbeiten" - sehr wohl aber eine Dynamik sowohl innerhalb des Familiengefüges als auch bei den einzelnen Personen möglich macht, die vorher undenkbar war. Auch wenn der Roman durchaus Längen hat und das Ende, in dem für die sterbende Nechama Enkel und Mann immer mehr verschmelzen, etwas dick aufgetragen scheint, zeigt der aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler übersetzte Text eindrucksvoll, wie die nicht vergangene Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt.
Kathrin Wexberg
>>> hier geht es zur Jahresübersicht 2012


