Lektorix des Monats Oktober 2012
Ich wünschte.
Porträts von Ingrid Godon
mit Texten von Toon Tellegen.
mixtvision 2012.
96 S. € 30,80
Auf Augenhöhe
Das Porträt darf als Kunstform verstanden werden, die nicht nur Abbildcharakter im Sinne einer physiognomisch genauen Darstellung des oder der Porträtierten hat, sondern darüber hinaus dessen oder deren Persönlichkeit einfängt. Seine Wirkung entsteht zuallererst über die Augenhöhe, die die Betrachter*innen der dargestellten Person gegenüber einnimmt. Darin liegt ein Rezeptionsvorsprung für jene, die in diesem Porträtband blättern: Unabhängig von ihrer Körpergröße können sie Blickkontakt auf Augenhöhe aufnehmen. Dennoch entstehen Irritationen, denn nicht alle Porträtierten blicken ihre Betrachter*innen an; oftmals verliert sich der Blick oder schweift in die Ferne; die Person gegenüber blickt durch einen hindurch oder hält die Augen gleich ganz geschlossen. Gesteigert wird dieses Moment der Irritation jedoch durch die Strenge in all diesen Blicken – niemand lächelt oder lacht, die Münder bleiben verschlossen. Nicht nur die jeweilige Persönlichkeit steht hier also zur ikonografischen Diskussion, sondern das Geheimnis, das hinter den Personen liegt – textlich realisiert durch formulierte Wünsche oder Sehnsüchte. Thematisiert werden dabei die Entfremdung von der Welt und sich selbst bis hin zu utopierten Auflösungsprozessen: „Ich wünschte, ich wäre allein. / Nein, das wäre zu viel. / Ich wünschte, dass ich überhaupt niemand wäre.“ Verloren Sein und Einsamkeit finden dabei ebenso künstlerischen Ausdruck wie die Präsenz der menschlichen Endlichkeit und das daraus erwachsende Begehren, verankert zu sein: "Ich wünschte, ich wäre Musik. […] Ich wünschte, dass mich ein jeder irgendwo / und unerwartet hören könnte, stehen bleibe / und lauschte, bis ich verklungen wäre. […] / Doch endgültig verklungen wäre ich nie. / Niemals."
Die als Bilderbuchkünstlerin bekannte Illustratorin Ingrid Godon hat ihre Porträts für eine Ausstellung großflächig auf matten, naturfarbenen Tonpapieren gestaltet. In Gesichtern mit weit auseinanderstehenden Augen setzt sie ihre Akzente über Bleistiftschattierungen, die wie Schleier über den Gesichtern liegen und Persönlichkeitsstrukturen gleichermaßen freigeben wie verschleiern. Der Kinderbuchautor Teen Tellengen hat poetisch auf die Emotion des Wünschens reduzierte Texte dazu gestaltet. Mit der bibliophilen, mit transparenten Zwischenseiten gestalteten Buchausgabe ist daraus kein Kinderbuch im engeren Sinn, wohl aber ein Band entstanden, der es allen Altersstufen ermöglicht, sich auf Augenhöhe auf menschliche Grundsehnsüchte einzulassen.
Heidi Lexe
Buchtipp in DIE FURCHE 40/4. Oktober 2012
Rachel van Kooij:
Menschenfresser George.
Jungbrunnen 2012.
352 S., € 22,60.
Ein Leben erfinden
Die Figur des Hochstaplers hat in der Literatur, erinnert sei nur an Thomas Mann unvollendet gebliebenen Felix Krull, meist etwas Humoristisch-leichtes – hochgestapelt wird aus gewitztem Kalkül, um sich Vorteile zu verschaffen. Rachel van Kooij akzentuiert den Ich-Erzähler in ihrem Jugendroman deutlich anders: Bereits als Kleinkind muss er seine Identität ändern, als sein Vater, Chef einer mittellosen Truppe von Wanderschaustellern, ihn mit seinem Bruder verwechselt. Als ihm aus diesem Versehen heraus die Rolle des gelehrten Dottore zugeteilt wird, entdeckt er sein Talent zum Auswendig-lernen – das er in weiterer Folge noch variantenreich einzusetzen weiß. Denn nachdem er sich als junger Mann in den politischen Wirren des ausgehenden 17. Jahrhunderts zunächst mit Mönchskutte gekleidet als irischer Pilger, dann als japanischer Prinz ausgibt, erfindet er sich schließlich jene Rolle, die ihm zu großer Berühmtheit verhilft, und die er mit viel Liebe zum Detail immer wieder neu ausschmückt: ein Ureinwohner Formosas, der von Jesuiten nach Frankreich verschleppt wurde. Als retrospektive Lebensbeichte erzählt kommen zahlreiche Aspekte des Lebens in lang vergangener Zeit zur Sprache, von willkürlichen Zwangsrekrutierungen junger Männer als Soldaten bis hin zur Schwierigkeit, jemanden der Lüge zu überführen, der seine Position so selbstsicher und phantasievoll behauptet. Schade nur, dass im ansonsten sehr gelungenen Buch weder der durchaus verwirrende historische Kontext noch das reale Vorbild für die Hauptfigur, ein Mann, der als George Psalmanazar in die Geschichte einging, näher erklärt wird; das bleibt eigenen Recherchen der jugendlichen Leser*innen überlassen.
Kathrin Wexberg
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