Lektorix des Monats Oktober 2011
Louis Sachar: König Dame Joker.
Aus dem Engl. v.
Werner Löcher-Lawrence.
Bloomsbury 2011.
Meine eigenen Karten
"Kein Mensch will ein Buch über Bridge lesen!"
Laut Vorwort wurde Louis Sachar oft mit diesem Satz konfrontiert, als er beschloss, einen Jugendroman über ein Kartenspiel zu schreiben, das man zugegebenermaßen wohl eher einer anderen Generation zuschreibt. Verfasst wurde er glücklicherweise trotzdem – für alle, "die sich damit abmühen herauszufinden, ob ein Vier-Coeur-Gebot ein ‚Gerber‘ oder natürlich ist" – und für alle, die wissen wollen, was diese
Widmung überhaupt bedeutet.
Auch der 17-jährige Erzähler Alton weiß zunächst nichts mit diesem Fachjargon anzufangen, als ihn seine Mutter in den Sommerferien zwingt, seinem alten Onkel Trapp beim Bridgespiel zu helfen. Dieser ist durch Diabetes erblindet – und der Junge kennt die Regeln nicht. So legt er die Karten gemäß der Ansage des brillanten Onkels und entwickelt parallel zu den Lesenden
eine Faszination für Bridge. Der Autor spielt dabei auf Risiko: Über weite Strecken des Buches erklärt er in den Worten Altons die komplexen Spielregeln – und gewinnt damit. Jedoch nicht ohne selbst narrative Regeln festzulegen: Wann immer im Text ein Wal auftaucht, kann getrost weitergeblättert werden; in Anlehnung an Melvilles lange Walfangerläuterungen signalisiert er umfassende Passagen über Bridgetaktiken. Wer sich diesen Spielbeschreibungen aber tapfer hingibt, wird belohnt mit wunderbarer Sprachmelodie ("Zwei Coeur reizen? Kontrieren? Ein Sans-Atout?") und zusätzlicher Spannung. Während sich der charmant-raue Trapp mit seiner Entourage den nationalen Meisterschaften nähert, versucht Alton die Vergangenheit von Trapps legendärer Bridgepartnerin aufzudecken, mit deren Enkelin ihn erst Spiel, dann Liebe und schließlich ein Geheimnis verbindet.
Vielfältig werden hier Brücken zwischen Menschen, Geschichten und Generationen geschlagen. Die gegenseitige Kompensation von Trapp und Alton reicht zunehmend über den Spieltisch hinaus; so sinnieren sie etwa über die Metaphysik, die über jeden Verlust erhaben ist. Als Trapp seiner Krankheit schließlich erliegt, folgt Alton demgemäß weiterhin dessen Stimme – und dies (ohne den Clou verraten zu wollen) nicht nur metaphorisch…
Wagemutig und voller Ideen erzählt Louis Sachar von der wachsenden Selbstbestimmung des Jungen: "Das Leben wird mir viele unterschiedliche Blätter zuteilen, gute und schlechte […], aber von jetzt an spiele ich meine eigenen Karten."
Ein Buch über Bridge will vielleicht wirklich kein Mensch lesen. Aber ein Buch über Bridge, das Leben und die Liebe allemal.
Christina Ulm
Buchtipp in DIE FURCHE 40/6. Oktober 2011
Rose Lagercranz:
Mein glückliches Leben.
Aus dem Schwed. v. Angelika Kutsch.
Ill. v. Eva Eriksson.
So oft glücklich
Literatur findet oft an den Grenzerfahrungen und Bruchstellen des Lebens ihre Themen, selten erzählt ein Buch schlicht und einfach vom glücklichen Leben. Der zeitgenössischen Kinderliteratur wird ihre Problemorientierung manchmal vorgeworfen – Rose Lagercrantz setzt dem in ihrem neuesten in der Reihe „Für alle, die schon gerne selber lesen“ des Moritz Verlags erschienenen Kinderroman ein gefühlvolles und doch ganz und gar unkitschiges Bild eines glücklichen Kinderlebens entgegen. Wenn sie nicht einschlafen kann, zählt die kindliche Protagonistin Dunne nicht Schafe, sondern wie oft sie in ihrem Leben glücklich war. Neben kleinen Momenten wie drei Schwimmzüge schaffen, ohne zu ertrinken, gehört dazu ganz wesentlich die Freundschaft zu Ella Frida, die sie in der ersten Klasse kennenlernt: "Eine bessere Freundin als Ella Frida gab es nicht. Sie gingen gemeinsam durch dick und dünn, durch Sonne und Regen, durch Feuer und Wasser." Doch dann zieht Ella Frida weg, und Dunnes Leben wird freudloser: Zur ständigen Sehnsucht nach der Freundin kommen weitere Missgeschicke, die in ihrer ohnehin traurigen Stimmung umso schwerer wiegen. Aber nach und nach nehmen die guten Momente wieder überhand, und schließlich steht sogar ein Besuch bei Ella Frida vor der Tür. Der lakonische und unsentimentale Ton findet in Eva Erikssons Illustrationen, die sehr auf die Figuren konzentriert sind, eine gelungene Entsprechung: Mit wenigen Strichen zeigt sie das ganze Spektrum kindlicher Emotionen, von großer Freude bis zu großer Wut. Am Ende des Buches steht Dunnes Vorfreude auf ein neues Kapitel ihres glücklichen Lebens – das dem Vorstellungsvermögen der Leser*innen überlassen bleibt.
Kathrin Wexberg
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