Lektorix des Monats Dezember 2010
Patricia MacLachlan: Edwards Augen.
Aus dem Engl. v.
Birgitt Kollmann.
Hanser 2010.
Seine Augen
In E.T.A. Hoffmanns schauriger Erzählung „Der Sandmann“ sind die Augen ein zentrales Motiv: Dem Protagonisten Nathanael wird erzählt, der Sandmann streue den Kindern Sand in die Augen, „dass sie blutig herausspringen“. „Augen her, Augen her“, hört Nathanael den bedrohlichen Alchemisten Coppelius schreien. Die Angst vor dem Raub der Sehorgane (und damit zwangsläufig verbundenen Verlust von Seele und Persönlichkeit) durchzieht den ganzen Text. In Patricia MacLachlans schmalem Buch „Edwards Augen“ hingegen wird zu Beginn nur angedeutete und erschließt sich erst vom Ende her, was der Verlust der Augen bedeutet.
Der Text ist aus Jakes Sicht erzählt, der sich an jenen Moment erinnert, als ihm sein drei Jahre jüngerer Bruder Edward das erst Mal in den Arm gelegt wurde. Was ihm an diesem Augenblick – wie auch an den folgenden Jahren – für immer in Erinnerung geblieben ist, sind Edwards Augen: "Seine Augen haben das dunkle Schlammblau des Nachthimmels, aber mit überraschenden goldenen Sprenkeln darin. Damit sieht er mir direkt in die Augen."
Aos besonders wie seine Augen bleibt Edward seine ganze Kindheit hindurch: Ein Kind, das sich vor nichts und niemandem fürchtet, völlig unbeschwert ist, alles zu wissen scheint. „Er ist irgendwohin unterwegs“, beschreibt ihn ein Erwachsener – und nimmt damit vorweg, was an einem schönen Frühlingstag plötzlich über die Familie hereinbricht: Edward verunglückt mit seinem Fahrrad töäglich. Die Eltern entscheiden, seine Organe zu spenden – auch seine Hornhäute. Jake ist fassungslos, wie man die so besonderen Augen seines Bruders hergeben kann, und weiß doch, dass Edward in seiner Großzügigkeit es genau so gewollt hätte.
Ihr Interesse an Familien, ihren Strukturen und Dynamiken war der Impuls für die ersten Werke der US-amerikanischen Autorin Patricia MacLachlan und zieht sich wie ein roter Faden durch all ihre Texte. Die Art, wie sie sich literarisch diesem weiten Themengebiet annähert, ist außergewöhnlich: Da ist kein Wort zu viel und kein Wort an der falschen Stelle. Auf kaum 100 Seiten erschließt sich der ganze Kosmos einer Familie, ihrer einzelnen Mitglieder als Individuen ebenso wie ihr harmonisches Ineinanderspielen in alltäglichen Moment, aber auch im Augenblick der alles verändernden Katastrophe. MacLachlan arbeitet extrem reduziert und schafft gerade dadurch Freiräume für eigene Assoziationen der Leser.
Kathrin Wexberg
Buchtipp in DIE FURCHE 48/2. Dezember 2010
Sonnenschein und Sternenschimmer.
Hrsg. v. Christine Knödler.
Ill. v. Linda Wolfsgruber.
Gerstenberg 2010.
Erwachen und Entschlafen
"Es träumt vom vollmond die sonne, / aus liebe zur sonn seufzt der mond, / von mir wird aus sehnsucht die welle / als menschlicher zierfisch bewohnt." Wenn h.c. artmann seine "wimpel bunt flattern" lässt, dann ist angezeigt, dass in einer Anthologie, die sich als Hausbuch auch an eine junges Lesepublikum richtet, nicht einfach Altbewährtes unter neuem thematischen Deckmäntelchen präsentiert wird.
Vielmehr wird hier das große Lalula eines Kinderkosmos ausgebreitet, wenn der Bogen über das Firmament ebenso wie über das Werden und Vergehen des Tages, aber auch des Jahres gespannt wird: Schöpfung und Hahnenschrei werden dabei ebenso in literarische Beziehung gestellt wie Mondenschein und Liebesleid, Sternenlicht und Schlaf.
Sonne, Mond und Sterne geben nur die primären Impulse wenn Gedichten, Geschichten, Märchen und Lieder den Spielarten des Erwachsens und Entschlafens – der Welt, des Tages, des Jahres, der Natur, des Menschen – folgen.
Pathos und Brüchigkeit der gesammelten Texte, die eine Spanne über drei Jahrhunderte schlagen, werden dabei aufgefangen in den Illustrationen von Linda Wolfsgruber, die nüchtern und intensiv die Verbindung zwischen Alltag und Vorstellungswelt, zwischen Himmel und Erde herstellt. Ohne die Himmelskörper zu personifizieren, macht sie doch faszinierende figurale Angebote. Sie spannt die Farben der Nacht zwischen Blütenblättern auf und fängt die Flüchtigkeit des Morgengrauens in ebenso hauchzarten Bildern ein wie das Ende des Tages, wenn Heinrich Seidel reimt: "Flieg zum Nest / und schwimm zum Hafen! Gute Nacht! Die Welt will schlafen!"
Heidi Lexe
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