Lektorix des Monats Juni 2010
Alexsandra Machowiak / Daniel Mizielinski:
Treppe Fenster Klo.
Die ungewöhnlichsten Häuser der Welt.
Aus dem Poln. v.
Dorota Stroinska.
Moritz 2010.
Birnenhaus, Haus mit Stacheln
Gemeinsam mit der Zeit zählt der Raum zu den wesentlichen Konstruktionsmerkmalen von Literatur. Das gilt, selbstverständlich, auch für das Bilderbuch. Gerade das aus dem unmittelbaren kindlichen Alltag heraus erzählende Bilderbuch vergisst jedoch oft auf die bauliche Vielfalt, die Kinder umgibt, und spiegelt damit durchaus das oft mangelnde allgemeingesellschaftliche Bewusstsein für Raumgestaltung, Architektur und Design. Wenn Kinder erstmals Häuser zeichnen, dann zumeist in quadratischer Form mit Giebeldach.
Warum also nicht einmal ein Zickzackhaus zeichnen, ein Birnenhaus, ein Schmetterlingshaus? Ein Haus in Halbmondform, ein Haus auf dünnen Beinen oder ein Haus mit Stacheln? Überbordende Fantasie und Realitätsanspruch wären gleichermaßen gewahrt, denn: All diese Häuser gibt es. Fünfunddreißig der interessantesten auf der ganzen Welt werden von den beiden polnischen Grafikdesignern farbstark im quadratischen Format präsentiert: Die Häuser werden in unterschiedlichen Ansichten skizziert, Grundrisse und Aufrisse je nach Bedarf mit Details der Innenansichten, Vergleichen der Bauteile oder klimatischen Bedingungen.
Die dominanten Farbflächen erhalten dem Buch dessen humorvollen Unterton; hier wird der Sachbuchcharakter nicht durch trockene, statische und geometrische Exaktheit gewahrt, hier wird ein Panoptikum architektonischer Möglichkeiten aufgeblättert und mit umfassender Sachinformation ergänzt, die Materialienkunde ebenso umfasst wie die jeweilige geografische Verortung und Funktionsaspekte der Häuser.
Die Originalnamen werden ebenso genannt wie die Architekten, deren Grundüberlegungen in die spielerische Aufbereitung der Sachinformation einfließt. Wer also schon immer einmal wissen wollte, wie viele Arten von Wassertürmen es gibt und in welchem Kontext diese Wasserturmarten zu dem Haus unter dem Dach (Woning Moereels) in Brasschaat, Belgien, stehen, der hat sein Bildersachbuchparadies gefunden – und landet dann auch folgerichtig beim Haus am Ende der Welt, dem Casa Poli auf der Halbinsel Coliumo, Chile. Hier scheitert ohne exakte Ortskenntnis sogar Google Earth. Womit einer der reizvollen Aspekte dieses Buches bereits genannt ist: Mit Kindern lassen sich zahlreiche Möglichkeiten finden, sich von den fünfunddreißig außergewöhnlichen Exemplaren zu eigenem Hausbau auf Mal- und Klebeunterlagen oder mit Karton und allen anderen nur erdenklichen Materialien anregen zu lassen – und dabei Fotos und Verortungen der Häuser aus Reiseführern, Atlanten oder natürlich dem Internet mit einzubeziehen.
Heidi Lexe
Buchtipp in DIE FURCHE 22/2. Juni 2010
Kirsten Boie: Ringel, Rangel, Rosen.
Oetinger 2010.
Wie war das damals?
Die Vertreibung aus dem Paradies – ein alttestamentarisches Motiv, das in der Literatur vielfach variiert wurde. In der Jugendliteratur bietet sich die Verschränkung mit dem Ende der Kindheit an: Eine Variante, die die mehrfach preisgekrönte Autorin Kirsten Boie hier virtuos gestaltet.
Der Text setzt mit "Das Paradies" im Sommer 1961 ein, die dreizehnjährige Karin liebt die Ferien mit Baden an der Dove Elbe, dem neuen Fernsehapparat und Klönen mit ihrer Freundin Regina. Doch dann erzählt Regina über ein Buch "von diesen Judensachen", und Karin beginnt sich und ihren Eltern erstmals Fragen zu stellen. Wie war das eigentlich damals? Warum steht dieser Eichmann jetzt in Jerusalem vor Gericht?
Im Februar 1962 folgt "Die Vertreibung": Historischer Hintergrund dafür war eine Sturmflut an der deutschen Nordseeküste, die rund 340 Todesopfer forderte. Familie wie jene der Protagonistin, die als Bombengeschädigte in einstöckigen Behelfsheimen in Kleingartenanlagen lebten, verloren ihr gesamtes Hab und Gut. Der dritte Teil "Asche zu Asche" erzählt schließlich vom Leben nach dieser Katastrophe im Sommer 1963: Nichts ist mehr, wie es vorher war. Der Vater ist unglücklich in der neuen Stadtwohnung, Karin wird immer aufsässiger – umso mehr, als sie herausfindet, dass die Mutter belastende Fotos aus dem Krieg verschwinden hat lassen. Boie literarisiert anhand einer einzelnen Mädchenfigur gesellschaftspolitische Fragestellungen der Nachkriegszeit. Sprachlich empfindet sie dabei den Duktus der Zeit nach und entwirft so ein Porträt einer Generation, die lernen musste, die Erzählungen der Eltern infrage zu stellen.
Kathrin Wexberg
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