Lektorix des Monats Juni 2009
Karla Schneider:
Wenn ich das 7. Geißlein wär'.
Ill. v. Stefanie Harjes.
Boje 2009
Wenn ich der Jäger wär
Es war einmal … Volksmärchen sind per definitionem Geschichten, die vor ihrer schriftlichen Fixierung bereits eine lange mündliche Überlieferung hinter sich hatten, in unterschiedlichen Erzählvarianten tradiert wurden. So entfaltet sich auch ihre archetypische Kraft ganz besonders im Wiedererzählen und Weitererzählen – ein Aspekt, den die Autorin Karla Schneider mit der kindlichen Lust am Rollenspiel und am Ausloten von unterschiedlichen Möglichkeiten kombiniert: "Wenn ich der Jäger wäre, hätte ich es so gemacht: Erst wäre ich ganz zufällig auf die Spur des Wolfs gestoßen. Dann wäre ich ihm nachgeschlichen. Und hätte ihn belauscht, wie er mit Rotkäppchen redet." So beginnt auf der ersten Doppelseite ein namenloser Bub seine Variante des Märchens. Doch seine Gesprächspartnerin namens Ottinka Taube argumentiert, dass dieses Wissen um die Absicht des bösen Wolfes ja wohl seine Erschießung als einzig logische Konsequenz hätte – doch was, wenn der Wolf am Anfang noch gar nicht böse war?
Durchgängig in Dialogform erzählt, entfalten sich im Gespräch der beiden Kinder kreative Variationsformen der altbekannten Geschichten. Anstelle der Formelhaftigkeit der traditionellen Märchensprache findet sich hier die Unmittelbarkeit eines Gespräches unter ins Spiel vertieften Kindern.
Auch typisch mündliche Ausdrücke aus dem kindlichen Alltag wie "ätsch-bätsch" oder "peng! peng!" sind wie selbstverständlich in die Dialogpassagen (die einander gegenübergestellt sind) integriert. Die Wildheit und Kreativität der immer mehr ins Dramatische gesteigerten Märchenhandlung nimmt Illustratorin Stefanie Harjes in ihren Bildern auf: Da ragen spitze Wolfszähne drohend über die Grenzen des Buches hinaus, die Befreiung der Geißlein aus dem Wolfsbauch wird ganz konkret als Operation inszeniert, in die sich unheilvoll ein mit schwarzen Ölkreidestrichen gezeichneter Vogel hineingeschlichen hat …
So wie im erzählten Text die Kinder immer mehr mit den Märchenfiguren verschmelzen, changieren auch ihre Figuren zwischen Vermenschlichung und Animalischem. Immer wieder wird auf das Theatrale dieser Märchenerzählung verwiesen, wenn menschliche Figuren mit Tiermasken gezeigt werden. Zentral ist dabei das Moment des Dialogs: Im Gespräch der beiden Kinder werden Assoziationen gesponnen, Möglichkeiten ausgelotet, Varianten andiskutiert und wieder verworfen – und schließlich die Entscheidung getroffen, dass zwei Wolfskinder in einem Geißen-Haushalt einfach nichts verloren haben.
Kathrin Wexberg
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