Lektorix des Monats Februar 2009
Rudyard Kipling:
Die Dschungelbücher.
Aus dem Engl. v.
Gisbert Haefs.
Ill. v. Martin Baltscheit.
Boje 2008
Einsam zwischen zwei Welten
Wenn der Nachtgesang des Dschungels anhebt, beginnen die Stunden der Macht für Klauen, Zähne und Krallen. Das "Gesetz des Dschungels" wird beim Wort genommen und zum prägenden Strukturmerkmal jener Geschichtensammlung, die erstmals 1894 unter dem Titel "Das Dschungelbuch" erschien. Ein streng hierarchisches Prinzip, das die vom Freien Volk der Wölfe schützt, wird dabei entworfen und im Nachfolgeband aus dem Jahr 1895 fortgeführt – wobei das Gesetz zuallererst als "wahr" und immerwährend ausgedeutet wird. So wie der in Bombay geborene englische Autor Rudyard Kipling (der erste Literaturnobelpreisträger Großbritanniens) überhaupt eine Vielzahl mythologischer und archaischer Szenerien entwirft – und damit in eine Welt des Fremden im Sinn des für den Menschen Unausdeutbaren führt.
Ihren sprachlichen Nährboden findet diese Fremdheit in der Vielzahl aus dem Hindi oder Urdu übernommenen Namen oder Ortsbezeichnungen. Gemeinsam mit dem erhabenen Sprachduktus, der auf das Vorzivilisatorische (respektive die Schwelle zur Zivilisation) verweist, sowie den zahlreichen lyrischen Passagen entsteht eine Fülle sprachlicher Varianten, die durchaus dem Dschungel als Metapher für eine in sich verschlungene Welt entspricht. Umso erfreulicher, dass die Illustrationen diese Metaphorik aufnehmen – oft genug waren beherzt bebilderte Ausgaben von "Das Dschungelbuch" mit scheinrealistischen Darstellungen geschlagen, in denen palmenhausähnlicher Bewuchs das Dschungelkind Mowgli umrankt hat. Der Dschungel wurde zur Kulisse, in der seit 1967 dann auch noch ein charmanter Swing im Disney-Style aufs exotische Parkett gelegt wurde.
Der Kampf ums Überleben im Dschungel ist in dieser Überlieferungstradition längst in den Hintergrund getreten; doch gerade im Motiv des wilden Kindes liegt die kinderliteraturhistorische Bedeutung der "Dschungelbücher". Mowglis steter Kampf um Zugehörigkeit weist ihn als wesensgleich mit anderen klassischen Figuren aus, die – zwischen zwei Welten stehend – oft genug einsam zurückbleiben. "Menschenrudel und Wolfsrudel haben mich ausgestoßen", stellt er am Ende von "Tiger! Tiger!" fest und beschließt, fortan allein im Dschungel zu jagen.
Martin Baltscheit nimmt die Rauheit dieses Lebens in seine scharfkantigen Bilder auf und schafft mit seiner suggestiven farblichen Reduktion auf Rot und Schwarz ein faszinierendes Äquivalent zur Fremdheit der Dschungelwelt. Es liegt also nicht nur erstmals seit Langem wieder eine Gesamtausgabe beider Dschungelbücher in solider deutscher Übersetzung vor, sondern zudem eine außergewöhnlich ansprechend gestaltete.
Heidi Lexe
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