Lektorixdes Monats Juni 2008
Avram Kantor:
Die erste Stimme
Ich und mein Bruder - mein Bruder und ich.
Aus dem Hebr. von Mirjam Pressler.
Hanser 2008
Stummes Erzählen
Während der Titel „Die erste Stimme“ Assoziationen an Themen rund um Musik und Gesang weckt, ist es vielmehr das Schweigen, dass das das zentrale Kompositionselement dieses Jugendromans ist. Es ist kein Ich-Erzähler, sondern eigentlich ein Ich-Schreiber, der diese Geschichte erzählt – denn der Bub, dessen Namen die Leser*innen nicht erfahren, kann nicht sprechen. Seine Familie hält ihn für zurückgeblieben, möglicherweise autistisch, auf jeden Fall aber intellektuell sehr eingeschränkt. In Wirklichkeit aber bekommt er sehr viel mehr von seiner Umwelt mit, als diese vermutet, und ist in der Lage, sich eigenständig Informationen und Wissen zu besorgen. So weiß niemand, dass er schreiben und lesen kann. Als ihm sein großer Bruder Kobi erlaubt, auf seinem Computer zu spielen, ahnt er nicht, dass der scheinbar zurückgebliebene kleine Bruder seine Mails lesen kann und bald auch herausbekommt, auf welchen Internet-Seiten sich Kobi bewegt. Als Kobi plötzlich beginnt, sich sehr intensiv mit der jüdischen Religion zu beschäftigen und für seine Familie immer unzugänglicher wird, ist der Ich-Erzähler der einzige, der weiß, dass Kobi sich mit einer ultraorthodoxen Sekte eingelassen hat: Was ihn wiederum vor die schwierige Entscheidung stellt, wie er mit diesem Geheimnis umgehen soll, ohne wiederum sein eigenes Geheimnis zu verraten. Avram Kantor ist als Verleger, Übersetzer und Autor für Kinder und Erwachsene tätig, obwohl er in Konstanz Deutsch studiert hat, ist dies sein erstes auf Deutsch übersetztes Buch – für die Übersetzung verantwortlich ist Mirjam Pressler, selbst Autorin und ausgewiesene Kennerin der israelischen Literatur. Neben der faszinierenden Konstruktion des stummen Erzählers ist es auch der Handlungsort Israel und die Bedeutung der jüdischen Religion für die Israelis, die dieses Jugendbuch so ungewöhnlich und lesenswert machen.
Kathrin Wexberg
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